(Am 19. April 1843 von 4 1/2 – 6 1/2 Uhr abends.)
[1.96.1] Nun seht, unser Prior und sein fremder schlichter Mann erreichen soeben jene ziemlich dichte Laube, welche da besteht aus Feigenbäumchen, und treten hinter dieselbe.
[1.96.2] Jetzt aber gebt Acht; unser früherer Mönch nähert sich mir schon wieder ganz bescheiden und fragt nun auch sogleich: Lieber Freund und Bruder, als erhabener Bote des Herrn, als solchen wir dich nun alle ungezweifelt erkennen, aber dabei nicht erkennen, wer jener fremde, schlichte Mann ist, – sage uns daher, wer dieser Mann ist, denn ich habe ihn so recht tüchtig betrachtet, und ich muss dir offenbar gestehen, dass mir im Verlaufe meiner Betrachtung von Augenblick zu Augenblick heißer geworden ist um mein Herz, und gar viele von meinen Brüdern gaben mir von ihnen aus das Gleiche zu verstehen. Daher meine ich, dass hinter diesem Mann durchaus nichts Geringes stecken kann; er ist entweder der Petrus oder Paulus oder etwa gar der Lieblingsjünger des Herrn! Wenn ich nicht zu weit vom Ziel geworfen habe, so wolle mir solches brüderlich gütig zu verstehen geben. Ich weiß zwar noch nicht, was im ferneren Verlaufe mit uns allen geschehen wird; kommen wir in die Hölle oder doch wenigstens ins Fegfeuer? Aber das ist gewiss, diesen fremden, schlichten Mann werde ich lieben, wo ich mich immer befinden werde in alle Ewigkeit, und das aus dem Grunde, weil er gar so schlicht, einfach und liebevoll ist, was ich deutlich daraus abgenommen habe, als ich betrachtete, wie gar so herablassend und liebevollst brüderlich er mit dem Prior umgegangen ist und seiner Schwachheit so weit nachgab und nachging, dass er ihn am Ende sogar vor der allfälligen schrecklichen Ankunft des Herrn in den Schutz nahm.
[1.96.3] Ja, das will ich einen wahren Menschenfreund nennen. Einem auf der Welt beizustehen, ist eine offene leichte Sache, weil da ein jeder Mensch in seiner vollkommenen Freiheit ist. Aber hier, im schauderhaften, unerbittlichen, aller Liebe, Gnade und Erbarmung nahe gänzlich ledigen Geisterreich, ist das ganz etwas anderes, einen so edlen Freund zu finden, hinter dem man sich bei solch einer entsetzlichen herannahenden Gefahr schützend verbergen kann. Daher bitte ich dich im Namen aller dieser Brüder noch einmal, dass du mir kundgeben möchtest, wer dieser Mann sei? Vielleicht würde er auch so gnädig und barmherzig gegen uns sein, uns dann zu beschützen und zu decken, wenn der Herr allerschrecklichst mit zornigem Richterantlitz erscheinen wird!
[1.96.4] O Freund und Bruder, du kannst es sicherlich nicht erfassen und begreifen, was das für einen armen Sünder ist, vor dem unerbittlichen Richterstuhl Christi zu erscheinen! Ich möchte ja lieber auf ewig mich in der größtmöglichsten Tiefe dieses Bodens vergraben lassen, als nur einen Augenblick lang das Angesicht des ewig unerbittlichen, allgerecht gestrengsten Richters anzusehen. Daher tue uns diesen letzten Liebesdienst, wenn wir überhaupt eines solchen nur im geringsten Teil würdig sind, und wir wollen uns dann ja für ewig mit dem ausgesprochenen göttlichen Urteil zufriedenstellen; aber nur vor dem Angesicht des unerbittlichen Richters lass uns verwahrt werden!
[1.96.5] Nun spreche ich: Lieber Freund und Bruder, du verlangst seltene Dinge von mir und bedenkst nicht, dass ich nicht der Herr, sondern nur ein Diener des Herrn bin, als solcher ich nicht tun kann, was ich will, sondern nur was da ist des Herrn Wille! Es ist aber dieser schlichte fremde Mann weder der Petrus, noch der Paulus, noch der Lieblingsjünger des Herrn, sondern Er ist Einer, der nicht ferne ist denen, die du nanntest, und eben auch nicht ferne ist mir wie dir. So viel genügt dir vorderhand.
[1.96.6] Dass du dich aber hinter Ihm samt deinen Brüdern vor dem Angesicht des Herrn beschützen möchtest, das ist eine eitle Sache. Meinst du, des Herrn Antlitz wird dich nicht treffen, wo du auch seist? Oh, da bist du noch in einer großen Irre! Wenn du aber völlig der Meinung bist, dich hinter dem Rücken jenes schlichten Mannes verbergen zu können, also, dass du nicht zu Gesicht bekämst das Angesicht des Herrn, da ziehe immerhin mit all deinen Brüdern dem Prior nach, und es wird sich an Ort und Stelle ja zeigen, ob du sicher bist vor dem Angesicht des Herrn.
[1.96.7] Meinst du denn, der Herr wird auf diesen Platz hierherkommen, der da leer ist? Das wird Er nicht tun, sondern Er wird Sich schnurgerade dahin begeben, wo ihr seid, oder euch wohl gar schon erwarten hinter dem Laubwerk.
[1.96.8] Nun spricht unser Mönch: O erhabener Freund und Bruder, du hast mir jetzt ganz entsetzliche Dinge ins Ohr gesetzt. Wenn es so ist, da möchte ich doch wieder nicht zur Laube hin, sondern mich lieber ganz einschichtig [einsam] oder höchstens mit noch einem Bruder in irgendeinen allerschmutzigsten Winkel verbergen, dahin wegen der Schmutzigkeit der Herr etwa doch nicht allzubald Sein Angesicht wenden würde.
[1.96.9] Nun spreche wieder ich: Lieber Freund und Bruder, auch das wird dir wenig nützen, denn der Herr wird dich dennoch finden und wärst du auch in der Tiefe aller Tiefen begraben. Daher meine ich, du solltest lieber allhier bei deinen Brüdern verweilen und dich fügen in den Willen des Herrn. Und der Herr wird dich in deinem Gehorsam sicher gnädiger ansehen, als so du eigenmächtigerweise dich töricht vor dem Herrn verbergen möchtest, vor dem sich doch ewig niemand verbergen kann.
[1.96.10] Unser Mönch spricht: Wenn es so ist, so geschehe denn in dem allmächtigen Namen des Herrn Sein heiliger Wille; denn wir sind deiner Rede zufolge nun schon auf alles gefasst! – Nun spreche ich: Nun gut, da solches bei euch der Fall ist, so lasst uns hinziehen, wohin der Prior mit dem schlichten fremden Mann gezogen ist; alldort wollen wir, als auf dem tauglichsten Platz dieses Gartens, des Herrn harren!
[1.96.11] Seht, die Mönche wie die Laienbrüder begeben sich, uns folgend, allerdemütigst, aber auch in aller Furcht ihres Herzens hin zu dem uns schon bekannten Laubwerk. Wir sind nun an Ort und Stelle. Lassen wir ein wenig diese Gesellschaft allein vor dem Laubwerk harren; wir aber begeben uns dafür ein wenig hinter das Laubwerk und wollen da ein wenig das Verhältnis unseres Priors ins Auge fassen.
[1.96.12] Seht, er fragt schon mit stark verlegener Stimme seinen schützenden Freund: Was um des Herrn willen hat denn das zu bedeuten, dass nun, für mich entsetzlichermaßen, alle meine sonst lieben Brüder gerade jetzt zu diesem unseren Bergwinkel hergewandelt sind? Am Ende wird es doch noch so werden, wie du, lieber Freund, ehedem bemerkt hast, dass der Herr nämlich gerade da, wo ich mich verbergen werde, gar leichtlich zuallererst erscheinen wird. Lieber Freund und Bruder, wäre es denn nicht tunlich, dass wir diesen Platz mit einem anderen vertauschen möchten?
[1.96.13] Der schlichte Mann spricht: Was würde dir das aber auch nützen? Weißt du nicht, was der Apostel Paulus damit angezeigt hat, da er sprach: „Wir müssen alle vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden!“? – Der Prior spricht: O lieber Freund und Bruder, diese schauerlichen Worte kenne ich nur gar zu gut! Was ist aber da zu tun, da ich dessen ungeachtet dennoch meine entsetzliche Furcht vor dem Herrn nicht loswerden kann?
[1.96.14] Nun spricht der schlichte Mann: Höre, mein lieber Freund und Bruder, da weiß Ich dir einen guten Rat zu geben. Du hast ehedem Mir bemerkt, dass du den Herrn über alles lieben könntest und wärst für ewig zufrieden schon, so du Ihn nur einmal im fernen Vorbeigehen zu Gesicht bekämst. Du weißt aber auch, dass der Herr ein gar großer Freund derjenigen ist, die Ihn lieben, und kommt ihnen unbekanntermaßen wohl allzeit schon mehr als auf dem halben Weg entgegen. Wie wär’s denn demnach, wenn du anstatt deiner großen Furcht deine Liebe zum Herrn so recht ergreifen möchtest und der Herr dir dann auch unbekanntermaßen, deiner etwas törichten Furcht begegnend, entgegenkäme? Ich meine, solches wäre füglich besser, als sich gar so töricht zu fürchten vor dem, den man doch nur über alles lieben soll!
[1.96.15] Der Prior spricht: Ja, lieber Freund und Bruder, wie allzeit und ehedem so hast du auch jetzt vollkommen recht. Oh, wenn ich nur den Herrn lieben darf, so ich Ihm mit meiner Liebe nicht gar zu schlecht bin, da will ich Ihn ja lieben über alle Maßen, aus allen meinen Kräften, denn ich fühle es ja ganz lebendigst in mir, dass ich nun nichts als nur allein den Herrn unbeschreiblich und unaussprechlich zu lieben vermag!
[1.96.16] Nun spricht der schlichte Mann: Siehe, Mein lieber Freund und Bruder, diese Sprache gefällt mir ums Unvergleichbare besser als die frühere, daher will Ich dir nun auch ein kleines Geheimnis enthüllen. Siehe, Der, den du gar so sehr gefürchtet hast und noch immer fürchtest, ist nicht fern von dir. Sage Mir, würdest du den Herrn auch so sehr fürchten, wenn Er so ganz Mir gleich schlicht, einfach und voll Liebe vor dir erscheinen möchte?
[1.96.17] Der Prior erwidert: O allerliebster Freund und Bruder, in dieser Gestalt würde ich mich sicher nicht fürchten vor Ihm. Aber was die Liebe betrifft, so glaube ich, dass mich dieselbe beinahe töten könnte, wenn ich den Herrn so in deiner Schlichtheit vor mir erschauen würde!
[1.96.18] Der schlichte Mann spricht: Siehe, deine Furcht rührt aus einer irdisch grundirrigen Vorstellung vom Herrn, während der Herr deiner Vorstellung doch nicht im Allergeringsten entspricht. Deine Vorstellung war aber auch zugleich der Grund, dass du den Herrn nie so ganz liebend erfassen konntest. Da aber jedoch aller Irre einmal ein Ende werden muss, so siehe her! Zuerst betrachte Meine Füße, an denen noch die Nägelmale sind, dann betrachte Meine Hände und lege gleich dem Thomas deine Hand in Meine durchbohrte Seite und du wirst daraus gar bald ersehen, dass man sich auch hinter dem dichtesten Laubwerk vor dem Herrn nicht wohl verbergen mag!
[1.96.19] Seht, nun erkennt der Prior in seinem schlichten Mann den Herrn und fällt, von der allmächtigsten Liebe ergriffen, zu Seinen Füßen hin und kann nichts reden, sondern er weint und schluchzt. Aber der Herr beugt Sich alsobald nieder, erhebt ihn und spricht zu ihm: Nun sage Mir, noch immer Mein Freund und Bruder, bin Ich wohl so schauerlich und fürchterlich, wie du dir Mich ehedem vorgestellt hast?
[1.96.20] Der Prior spricht: O Du mein allermächtigst geliebtester Herr Jesus! Wer hätte es sich je von uns auch nur zu denken getraut, dass Du auch im Reich der Geister gar so unendlich, unaussprechlich gut bist?! O Herr, lass mich jetzt hinausgehen und rufen aus allen Kräften, so dass es alle Enden Deiner unendlichen Schöpfung vernehmen sollen, dass Du der allerunendlichst beste, liebevollste und heiligste Vater bist!
[1.96.21] O Herr, wie unendlich selig bin ich jetzt, da ich Dich also habe kennengelernt! Ja, Du bist der Himmel aller Himmel und die höchste Seligkeit aller Seligkeiten! Wenn ich nur Dich habe und Dich ewig mehr und mehr lieben darf, so frage ich weder nach einem Himmel noch nach irgendeiner anderen Seligkeit mehr! Lass mich hier eine Hütte erbauen, die groß genug ist, mich, meine Brüder und Dich, o Herr, zu fassen, und ich gehe da mit keiner Seligkeit mehr einen Tausch ein! Aber Du, o allerliebevollster, heiliger Jesus, darfst uns ja nicht mehr verlassen, denn ohne Dich wäre ich nun ewig das unglücklichste Wesen!
[1.96.22] Der Herr spricht: Mein Freund und Bruder, Ich kenne dein Herz, lass daher gut sein, was du wünschest, und gehe dafür hinaus zu deinen Brüdern und verkündige Mich, wie Ich Mich dir verkündigt habe. Ich aber werde dir sobald folgen, um auch zu erlösen dir gleich alle deine Brüder und werde dann euch führen zu eurer wahren, ewigen Bestimmung! Und so denn gehe und tue nach Meiner Liebe. Amen!
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