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54. Befreiung von dem Scheinhimmel

(Am 8. Februar 1843 4 – 6 3/4 Uhr abends.)

[1.54.1] Nun seht, nachdem sich das Fahrzeug stets mehr und mehr dem Ufer nähert, so erkennt auch unser Hauptredner seinen sich wohl gemerkten Tafeldiener stets mehr und mehr, und wendet sich darum an seine Gesellschaft und spricht zu ihr: Da seht einmal hin, wenn das nicht unser sauberer Tafeldiener ist, so ist unsere feuchte Unterlage kein Wasser. Oh, er ist es; sein ganzes Benehmen, sein Gesicht, seine langen blonden Haare; kurz und gut, je näher wir ihm kommen, desto ungezweifelter erscheint er meinem Auge als solcher zu sein! Wenn ich jetzt nur so eine kleine Allmacht hätte, ich wollte ihm doch so recht nach meiner Herzenslust ein kleines Donnerwetter auf den Hals schicken. Kann ich aber schon solches nicht, so sollen ihn doch wenigstens, wenn wir völlig beisammen sein werden, einige ausgesuchte Zungenblitze aus meinem Mund treffen. Denn das glaube ich denn doch nicht, dass in diesem Geisterreich, das heißt dort oben in dem verdächtigen Himmel und da unten auf diesem Land, zwei sich auf ein Haar gleichsehende Geister sich vorfinden sollten. Wir wollen daher auch nichts dergleichen tun, als wenn wir ihn schon einmal gesehen hätten, sondern nur abwarten, was er vielleicht selbst bei unserer völligen Annäherung ans Ufer reden wird. Sollte er etwa nichts dergleichen tun, so werde dann schon ich mich mit ihm erkundlich zu schaffen machen und sicher herausbringen, ob er der Tafeldiener ist oder nicht. – Ein anderer aus der Gesellschaft aber spricht zum Hauptredner: Höre, Freund, ich setze den Fall, es ist dieser offenbar auf uns harrende Geist der uns bekannte Tafeldiener, da bin ich einer ganz anderen Meinung als du, mein lieber Freund und Bruder. Siehe, es war ja ohnehin dein und unser aller Wille, aus dem obigen Sitz-, Fress- und Gaff-Himmel zu kommen; der Tafeldiener hat dir meines Wissens solches auch zugesichert. Dass er gerade oben nicht mehr zu uns gekommen ist, das wundert mich gar nicht, denn erlaube mir: erstens hast du gleich bald nach seinem Weggehen von uns hinsichtlich des fälschlichen Textes über ihn loszuziehen angefangen, zweitens hat keiner von uns – aus eben dem Grunde – seinen Vorschlag, wie wir uns hätten verhalten sollen, berücksichtigt. Dass er uns darob hat ein wenig zappeln lassen und in eine freilich wohl überaus starke Verlegenheit gesetzt, das finde ich hinsichtlich unserer wahrhaften Brutalität gegen ihn für nichts mehr und nichts weniger als vollkommen billig. Da wir aber so höchst wunderbar und überaus wohlbehalten gerettet worden sind, und das sicher durch niemanden als durch ihn, so bin ich der Meinung, wir sollten mit unserem Donnerwetter, unserer Zungenblitzerei und der Erkundigungsschlauheit so hübsch fein zu Hause bleiben. Denn sonst könnte es ihm etwa einfallen, unserer noch einmal zu vergessen, und dieses uns nun sehr nahe Land ebenfalls so locker zu machen als wie das dort oben im Himmel.

[1.54.2] Der Hauptredner spricht: Mein schätzbarster Freund und Bruder! Du hast im Ernst nicht unrecht; ich war nur ein wenig hitzig, aber deine Rede hat mich jetzt vollkommen nüchtern gemacht. Es könnte dieser Tafeldiener ja sehr leicht ein verkappter Engel sein, obschon ich bei ihm noch keine Flügel gesehen habe, welche er wohl sehr leicht unter dem Kleid verborgen haben kann. Und wenn er so etwas wäre – die heilige Dreieinigkeit stehe einem bei! – da müssten wir doch schon ganz entsetzlich das Kürzere ziehen, denn so ein Engel soll ganz entsetzlich stark sein. Ich habe mir’s einmal von einem recht frommen Geistlichen erzählen lassen, dass so ein Engel, mit seiner überaus großen Stärke, die ganze Erde gar leicht mit einem großen Flammenschwert auf einen Hieb entzwei hauen könnte. Wenn wir ihm daher hier etwas grob entgegenkämen, wie leicht möglich wäre es da wohl, dass er unter seinem Rock nebst seinem Flügelpaar auch so ein wohlgenährtes flammendes Schwert besäße. Ich will nicht weiterreden, was er damit gegen unsere entsetzliche Schwachheit alles auszuführen imstande wäre.

[1.54.3] Der andere spricht: Ja, ja, lieber Freund und Bruder, in diesem Punkt hast du wieder ganz recht. Wenn er auch in der Heiligen Schrift nicht eben zu sehr bewandert zu sein scheint, so kann er aber deswegen doch ein wirklicher Engel sein; und so denn wollen wir uns ihm ja ganz demütigst nahen.

[1.54.4] Ein dritter aus der Gesellschaft bemerkt und sagt: Hört Brüder! Drei Köpfe und sechs Augen sehen mehr als einer mit zwei Augen. Ich bin der Meinung, wir sollten auch hinsichtlich der Heiligen Schrift und der Textverwechslung, oder vielmehr der Namensverwechslung bei der Kundgabe eines Textes, durchaus kein Aufheben machen. Denn was wissen denn wir, wie die himmlischen Geister, und ganz besonders die Engel, das göttliche Wort innehaben, wie sie es lesen und wie sie es verstehen. Es könnte ja auch sehr leicht sein, dass der Johannes solches von Christo ausgesagt habe, hat es aber entweder selbst nicht aufgezeichnet oder es ist durch die vielen Überlieferungen so wie ein ganzer Brief des Paulus meines Wissens für die Welt rein verloren gegangen. Im Himmel aber wird dergleichen sicher nicht verlorengehen. Also meine ich, wie schon gesagt, wir sollen in dieser Hinsicht mit unserer Unwissenheit eben nicht zu viel Rühmens machen. Denn ich war auf der Welt, wie ihr wisst, selbst ein Geistlicher und sogar Doktor der Theologie und habe als solcher in dem hl. Buch wohl manche Lücken gefunden, habe mich aber damit vertröstet: wären dergleichen sicher abgängige Stellen für das Heil der Menschen unumgänglich notwendig, so hätte es der Herr auch nie zugelassen, dass sie wären verlorengegangen. Und ferner dachte ich dabei, dass sich dergleichen Stellen einst im Himmel zu einem höheren geistigen Zweck allerreinst vorfinden lassen werden. – Seht, der Hauptredner und auch alle anderen sind mit diesem Vorschlag völlig zufrieden.

[1.54.5] Nun aber ist auch unser Fahrzeug völlig ans Ufer gestoßen und die ganze Gesellschaft, über hundert Köpfe stark, begibt sich aufs Land, und der ihrer harrende Tafeldiener geht der ganzen Gesellschaft mit offenen Armen entgegen. Unser Hauptredner geht überaus ehrerbietig zu ihm hin und sagt: Bist du es, oder bist du es nicht? – Der Tafeldiener spricht: Ja, ich bin es! Und wir sind hier wieder zusammengekommen, wie ich es dir schon oben habe zu erkennen gegeben. Du hast mit deiner Gesellschaft die von mir vorgeschlagenen Bedingungen nicht gehalten, also konnte auch ich die meinigen nicht halten nach dem Maß, wie ich es dir habe zu erkennen gegeben, und das zwar aus diesem Grunde, weil du dein Maß verrückt hast. Dennoch aber wollte ich dich freimachen von deinem Irrhimmel; also musste ich denn nach deinem verrückten Maß auch einen verrückten Weg einschlagen, um dich und diese ganze Gesellschaft aus dem Scheinhimmel zu bringen.

[1.54.6] Du fragst mich nun, was denn ein solch sonderbarer Weg in seiner höchst wunderbaren Weise bezeichne, und fragst noch ferner, was der offenbare Widerspruch zwischen der von mir dir an der Tafel gezeigten Festigkeit und dem dann aber doch bald erfolgten örtlichen förmlichen Einsturz des Himmels bezeichne? Denn im naturgemäßen Sinne wäre solches eine offenbare Prellerei. Ich sage dir, solches alles hat einen mit eurem Inwendigen ganz vollkommen übereinstimmenden Sinn; denn als ich dir noch an der Tafel deines Himmels Festigkeit zeigte, da zeigte ich dir nichts anderes als deine noch feste Begründung in der Irrtümlichkeit deines Himmels.

[1.54.7] Da du aber in meiner Nähe das Unzulängliche und völlig allerwiderlichst Törichte deines Himmels zu verspüren anfingst, da hobst du dich vom Zentrum deines Irrtums und flohst mit vielen, die, heimlich auch von mir angeregt, deiner Ansicht waren. An weiter Grenzmarke deines Irrtums zeigte ich dir alles, was dich noch an deinen törichten Himmel fesselte. Solches hättest du beachten sollen, du aber bliebst noch selbst an der Grenze deines Irrtums fest an selbem hängen und mochtest nicht begreifen, was ich zu dir gesagt habe. Darum wolltest du denn auch in deinem Irrtum vorwärtsschreiten. Nicht ich, sondern das Wort, das ich zu dir geredet habe, hat aber, trotz deines Fortschreitenwollens, deinen Irrtum gelockert und zerriss ihn an mancher Stelle, durch welche du gar leicht den völligen Ungrund deines Scheinhimmels zu erschauen vermochtest. Ja, am Ende hat dich mein Wort ganz gefangengenommen. Die noch zu Schwachen trennte es durch eine neue Kluft von dir, und du warst somit, wie besagt, vollends ein Gefangener.

[1.54.8] Da dadurch dein Irrtum stets mehr und mehr einzusinken begann, so flohst du mit deiner Gesellschaft auf die Mauer. Diese Mauer war das in dir zwar haftende, aber in allen Teilen gänzlich unverstandene göttliche Wort. Daher hatte sie für dich und deine Gesellschaft auch keine Tragfestigkeit. Sie trennte sich scheinbar und fiel mit euch herab in die Tiefe, das heißt, das Wort, welches bis jetzt nur euren Verstand beschäftigte, fiel zu einem kleinen Teil in die lebendige Tiefe eures Herzens. Ihr ersaht da gar bald ein großes Gewässer unter euch, welches euch zu verschlingen drohte. Aber dieses Gewässer war nichts anderes als die erschauliche Erkenntnisweisheit, welche in diesem geringen Teil des Wortes, das in deine Tiefe fiel, verborgen ist. Mit dieser Wortmauer in deinem Herzen erreichtest du bald das große, lichte Erkenntnismeer, und das Wort ward dir, wie euch allen, zu einem sicheren Träger über die unendlichen Fluten der göttlichen Weisheit, welche da verborgen ist auch nur in diesem kleinen Wortteil. Als du in dir das Wort heimlich stets mehr und mehr aufnahmst, so trug dich dasselbe nach dem Grad deiner Aufnahme einem festen Lebensufer näher und näher. Und nicht eher hättest du dasselbe erreicht, als bis dieses Wort über den Eigendünkel deines Herzens völlig gesiegt hätte. Das Wort aber hat gesiegt, und so bist du mit demselben auch ans feste Ufer gestoßen.

[1.54.9] Denke nur zurück an alle die lächerlichen Faseleien, welche zwar samt und sämtlich deiner gutmütigen Außenhaut entsprossen sind, und du wirst das Unhaltbare und Leere aller deiner Begriffe über Gott und Himmel gar leicht erschauen. Nun aber bist du auf dem ersten wahren Grund des Wortes; daher forsche auch auf diesem Grund, und du wirst samt deiner Gesellschaft Gott und den Himmel von einem ganz anderen Gesichtspunkt zu erkennen anfangen.

[1.54.10] Siehe dorthin, zwischen Morgen und Mittag steht ein großer Palast. Dahin sollt ihr euch begeben. Alldort werdet ihr alles antreffen, wessen ihr bedürfet.

[1.54.11] Und unser Hauptredner spricht: O lieber, himmlisch hochgeschätzter Freund! Möchtest du denn nicht so gut sein und uns dahin begleiten? – Der vermeintliche Tafeldiener spricht: Solches ist nicht vonnöten; denn ihr werdet bis dahin den Weg nicht verfehlen, ich aber will vorausziehen, so schnell wie ein Gedanke, und will euch dort empfangen und einführen! Dort erst werden wir einige Worte über Johannes und Paulus näher beleuchten, und es wird sich zeigen, wer aus uns allen der Wortkundigste ist. Also befolgt meinen Rat und zieht dahin. Amen! – Seht, der vermeintliche Tafeldiener ist plötzlich entschwunden und unsere Gesellschaft fängt an, den vorbezeichneten Weg, freilich wohl noch so ziemlich verblüfft, zu gehen. Wir aber wollen ihr auch folgen und Zeugen sein, was alles Denkwürdiges sich mit ihr noch zutragen wird.

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