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78. Henoch erklärt die Entsprechung des Naturwunders

[1.78.1] Als aber der Asmahael solches aus dem Munde Adams vernommen hatte, ward er zu Tränen gerührt und sprach mit zum Himmel erhobenen Augen:

[1.78.2] „Oh, wenn es möglich doch wäre, zu retten die Armen, die armen getöteten Brüder, o wahrlich, dann möcht’ ich als nichtige Fliege zum mächtigsten Geier wohl werden und schießen im schnellsten Fluge hinab in die Tiefen, um alle die Brüder, die Armen, die Toten für Licht und für Leben daselbst zu erfassen und tragen so schnell nur und schneller, als jeder Gedanke zu eilen vermag, all’ daher, dass sie sehend mit mir staunen da sollen, wie bald und wie hehr auf den heiligen Höhen die mächtigen Kinder des Herrn all die wundererfülltesten Dinge den Schwachen und Toten gar weise belehrend enthüllen und zeigen in mächtigen Formen, aus heiligen Worten erbaut, die Wohnung des Lebens im Menschen – und, mächtiger noch als das alles, den mächtigsten, heiligsten Schöpfer der Welten und Sonnen als Vater der Menschen!

[1.78.3] Oh, wenn es doch möglich wohl wäre!

[1.78.4] O Väter der Väter der Erde, erschaut oft das Auge im staunenden Schauen hinaus in die endlosen Räume der glänzenden Schöpfung das nichtige Stäubchen auch nimmer, – doch wenn aber dieses so nichtige Stäubchen ins Auge des Sehers, vom Wind getragen, gefallen ist einmal, dann fängt sich der Große das schmerzliche Auge zu reiben und sucht zu entledigen sich, was da hemmend und brennend die Sehe ihm schloss! Und so ruft dann nicht selten der Bruder zum Bruder:

[1.78.5] ‚O komme und such’ mir das nichtige, lästige Ding aus dem Auge!‘ Und hat es der Bruder ersehen, begraben im tränenden Auge des Bruders, dann ruft er: ‚O Bruder! Der nichtige Feind deiner Sehe ist schadlos geworden; er liegt in siegender Flut deiner Tränen begraben! Mitleidige Tränen dich werden zur heiteren Freude gar bäldlich von deinem gefürchteten, nichtigen Feind befreien; denn ist erst das Stäubchen zur Träne gar selbsten geworden, wird’s nimmer dir drücken die Sehe und hemmen dieselbe, zu schauen die leuchtenden Fernen der ewigen Schöpfung!‘

[1.78.6] O Väter der Väter der Erde, ihr schaut mit heiligen Augen hinaus in die endlosen Triften der ewigen Lichter; doch unten, dort unten in finsterer Tiefe des menschlichen Elends, da wirbelt ein tobender Orkan den feindlichen Staub, eurer Sehe zur Hemme, nicht selten zur heiligen Höhe herauf!

[1.78.7] Wenn er Schmerzen euch macht, o lasst dann denselben von einer bekümmerten Träne ergreifen, und duldet, bis selber zur dankbaren Träne selbst wird!

[1.78.8] O vergebt mir Armem und Schwachem! Und kann auch die Fliege nicht brüllen gleich Tigern und Löwen, doch zeigt auch ihr leises Gesumse und sagt: ‚O Väter der Väter der Erde, auch ich bin der mächtigen Hand eures heiligen Vaters entronnen; darum gönnt ihr Großen mir Schwachem auch einen mitleidigen Blick!‘ Höret! Amen, o amen.“

[1.78.9] Adam aber sagte, hocherfreut über die schönen Worte Asmahaels: „Ich habe dein gerechtes Seufzen wohl vernommen und kenne gar wohl den argen Staub der Tiefe, diesen großen Feind alles inneren Schauens; jedoch bevor wir zu irgendeinem Wohlwerke schreiten werden, muss erst der Wille des großen Herrn genau erforscht werden. Denn von uns soll nie etwas unternommen werden ohne den wohlerkannten Willen von oben; daher nur noch eine kurze Zeit, und es soll heute noch entschieden werden, was da der große Herr über allen Sternen beschlossen hat, zu tun in den Tiefen der Gräuel, und solches wird wohl das Beste sein. Und möge es ausfallen für oder gegen, so geschehe allzeit auf das Allerpünktlichste Sein allerheiligster Wille! Amen.“

[1.78.10] Es stand aber alsbald Seth auf und sagte zum Adam: „Lieber Vater! Sollte uns allhier nicht der Henoch eben auch wie in deiner Grotte eine kurze Deutung dieser Prachtgegend geben? Siehe, mich dürstet gar sehr danach! Wie oft schon habe ich darüber nachgedacht, konnte aber doch ein für allemal nichts anderes herausbringen, als was die Augen sahen und meine Ohren vernahmen, nämlich diese himmelanragenden, gleichförmigen Steinspitzen mit ihren merkwürdigen Wasserstrahlen, welche in zahllosen Wasserperlen rauschend über die steilen Wände herab zur Erde stürzen und durch dieses harmonische Rauschen das Ohr auf eine wunderbare Art entzücken.

[1.78.11] Daher möchtest du wohl gestatten, dass darüber der Henoch uns allen kundgeben möchte eine wahre Deutung. Amen.“

[1.78.12] Adam aber sagte, hoch- und wohlbilligend das Verlangen Seths: „O Seth, du bist mir zuvorgekommen! Denn solches war lange schon mein eigener Wunsch; daher geschehe, wie du es gewünscht hast! Und du, lieber Henoch, tue und reiche deinen dürstenden Vätern einen kühlen, stärkenden Trank aus deiner Liebe nach meinem und Seths Verlangen! Amen.“

[1.78.13] Und siehe, alsbald erhob sich Henoch und fing an, folgende sehr denkwürdige Worte an die Väter zu richten, sagend nämlich:

[1.78.14] „O Väter! Im Schoße der weiten Unendlichkeit Gottes werden wohl noch größere und wunderbarere Naturszenen sich vorfinden und unaussprechlichmal erhabener sein denn diese siebenmal zehn wasserspritzenden Steinspitzen, da alle kaum einige tausend Mannshöhen vom Grund aus betragen, was doch bei weitem nicht so viel ist wie das Verhältnis einer Blattklebmilbe gegen uns; und doch ist es also, dass ein solches Tierchen in seiner Art größer ist denn diese ganze wasserspritzende Steingruppe!

[1.78.15] Es ist denn aber, dass eine solche großartig scheinende Szene ein stummes Wort aus der Weisheit des allerliebevollsten, heiligsten Vaters predigt, so ist dann nur der Sinn erhaben, aber nicht das stumme, leblose Werkzeug, – gleichwie auch kein Mund darum erhabener ist denn ein anderer, wenn er Worte auch von größter Erhabenheit gesprochen hat; denn das Erhabene liegt nicht am Mund, sondern am Wort.

[1.78.16] Also ist es auch bei dieser Szene. Nicht weil sie solches darstellt, dass wir daran erkennen in der inneren Entsprechung des Geistes die sieben Geister oder die sieben Mächte Gottes, und dass jede davon voll ist des lebendigen Wassers der Gnade, welche beständig über unser mageres Erdreich unserer Seele herabregnet und dennoch nicht viel mehr Früchte zeugt denn das stets bewässerte Erdreich um die Füße dieser Steinkegel, – noch weil die dahinterstehenden zehn Kegel darstellen die heiligen Pflichten der Liebe, die stets dieselben sind, weil die sieben Geister eigentlich auch nur ein Geist sind, was da bezeugt dieselbe Höhe, dieselbe Farbe, dieselbe Gestalt, dieselbe Masse, dieselbe Richtung, dasselbe Wasser und dasselbe harmonische Rauschen, – sondern die alleinige Erkenntnis daraus in uns selbst ist erhaben und würdig! An der Szene selbst ist wenig gelegen!

[1.78.17] ‚Löst die Wunder vorerst im Herzen; wahrlich, dann erst werdet ihr mit Mir stimmen‘, spricht der Herr, ‚und sagen: ‚O Herr, wer nur einen Tropfen Deiner Liebe verkostet hat, dem wird die Erde zum Ekel im lauten Jubel über Gott des eigenen Herzens!‘ Amen.“

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