[1.71.1] Und höre, es hatte aber diese Rede beinahe alle stumm gemacht; denn sie verstanden nun gar wohl die Rede Henochs und dachten nur bei sich über all die Irrtümer nach, von denen sie bis jetzt sämtlich so hart befangen waren. Und auch ihren Kindern gingen die Augen weit auf; sie erkannten sich wieder und Mich mehr und mehr durch ihre aufwachende Liebe in sich. Und es begriffen nun erst auch vollends von Adam bis Jared die Hauptstammkinder die Grottenrede Henochs und verstanden vollends den Sinn der Grotte. Und Adam dachte viel über den Aufgang der Sonne nach und verstand selben. Seth aber richtete sich auf, blickte gen Himmel und dankte Mir für dieses große Geschenk; und seinem Beispiel folgten alle, die zugegen waren, und lobten und priesen Mich über die Maßen in ihren Herzen.
[1.71.2] Es trat aber eines der Mittagskinder, die da waren aus der Linie Seths und Enos’, hin zum Henoch, verneigte sich tief vor ihm und sagte: „Henoch, sehe, hier vor dir stehe ich im Namen aller; mein Name ist Sethlahem (das heißt: ‚Ein mit Weisheit hochbegabter Sohn Seths‘).
[1.71.3] Mein Erstes ist, durch dich abzustatten den allergebührendsten Dank an den heiligen Geber solcher hohen Gnade. Denn da du dem Herrn am nächsten bist und hast dessen lebendiges Wort, so ist es auch wohl am füglichsten, dass du das Mangelhafte unseres Dankes gegen den Herrn für eine so große Wohltat ergänzt. Denn da ich die Weisheit erhielt vom Herrn, so tat ich, was mich diese lehrte, und konnte auch nicht mehr tun, da meine Weisheit hinreichend fand, was ich tat. Allein das du hier lehrtest in deiner Lebenssprache, ist mehr denn alle Weisheit aller Menschen; es ist die Wurzel alles Lebens und der ewige Grund aller Weisheit, – ja, es ist Gott, den du hier verkündest! Und siehe, da reicht meine Weisheit nicht aus, um Diesem den gerechten Dank abzustatten; daher tue du an meiner Stelle, was des Rechtens ist! Das andere aber, das mich nach dir verlangte, ist, dass du mir gestatten möchtest, zu dir in die Schule zu kommen, damit du mich lehren möchtest den Weg, den du gegangen bist, dass dir geworden ist in einer solchen Tiefe das Leben aus Gott.
[1.71.4] O Henoch, verarge mir nicht diese Doppelbitte; denn meine Weisheit sagt es mir, dass du ein rechter Seher Gottes bist. Denn des Allerhöchsten Liebe hat voll gemacht dein Herz, und angerührt ward deine Zunge durch das Feuer, das da übermächtig dem Finger Gottes entströmt. Oh, so zeige dem Sethlahem, wie und wann dir solches geworden! Amen.“
[1.71.5] Henoch aber erhob sich alsobald und sagte: „Höre, Sethlahem, wozu des Rühmens? Hast du denn die Weisheit darum erhalten, dass du mit ihr ausgingest zu rühmen, was des Rühmens nicht wert ist, und weißt nicht zu rühmen Den, dem doch allein nur aller Ruhm gebührt?! Oder meinst du, das Leben lasse sich auch erlernen wie solche Weisheit, die du erlernt hast mit kaltem Herzen, auf dass du ein Meister in der Weisheit würdest?!
[1.71.6] O Sethlahem, Sethlahem! Sehe zu, dass du nicht erstickst in deiner eitlen Wissbegierde!
[1.71.7] Sehe hier einen Feigenbaum und da einen Baum voll schon halbreifer Pflaumen! Was meinst du, so der Pflaumenbaum in die Schule ginge zum Feigenbaum, um von ihm die Kunst zu erlernen, statt der Pflaumen auch Feigen zu tragen auf seinen Ästen gleich dem Feigenbaum, – wird solches wohl füglich je geschehen?
[1.71.8] Gewiss, so deine Weisheit zu irgendetwas nütze ist, muss sie dich augenblicklich überzeugend gemahnen, dass solches in alle Ewigkeit nicht angehen wird!
[1.71.9] Aber so jemand nimmt Reiser mit Samen vom Feigenbaum, beschneidet dann allseits den Pflaumenbaum, spaltet die Zweigrümpflein und steckt dann die Samenreiser hinein und verbindet sie sorgfältig mit Erde und Harz, so wird alsobald der Saft des Pflaumenbaumes in den Feigenreisern umgestaltet werden zum Leben des Feigenbaumes; und so werden dann nach nicht gar langer Zeit auf dem so umgewandelten Pflaumenbaum edle Feigen zum Vorschein kommen.
[1.71.10] Solches zu tun lehrte dich schon lange deine Weisheit; wie ist’s denn aber, dass sie dich nicht auch gelehrt hatte, den Herrn aus allen Kräften zu lieben, auf dass du statt Pflaumen auch Feigen des Lebens zur Frucht gebracht hättest?!
[1.71.11] Ich sage dir aber, Sethlahem, siehe, Adam hat dich beschnitten wie alle deine Kinder und Brüder, Seth hat euch gespalten, und der Herr hat durch mich nun die Reiser des ewigen Lebens in euch gesteckt; nun sucht durch eure gegenseitige Liebtätigkeit frische Erde und Harz, und verbindet das Leben wohl in euch durch den Glauben, so werdet ihr auch alsobald finden, was du nun fruchtlos bei mir zu erlernen suchtest!
[1.71.12] Und nun gehe und handle, so wirst du leben! Amen.“
[1.71.13] Als aber der Sethlahem solche Rede vernommen hatte, da schlug er sich auf die Brust und sagte: „O Henoch, ich erkenne die hohe Wahrheit deiner Rede, allein es ist dir leicht, solche zu reden, da du sie schon hast; denn der Herr hat sie dir gegeben frei aus Sich heraus, ohne dass du darob desgleichen tun mochtest, was zu tun du mich angewiesen hast! O siehe, im Trockenen lässt sich gut ruhen und ohne Pfand leicht nehmen; allein also ist es nicht bei mir! Gar lange schon arbeite ich und ringe unaufhörlich nach dem, das dir ohne Mühe geworden ist; allein es ist umsonst! Für mich ist der Himmel mit Steinen verlegt, und es wäre leichter, in die Erde ein Loch zu graben, das da reichen möchte bis dahin, da sie nicht mehr ist, als zu erlangen einfließend nur einen einzigen Tautropfen des Lebens der Liebe von oben.
[1.71.14] Dass es aber also ist, – so sehe nur hin auf die hohen Väter, auf dass sie dir zeugen für mich! Sind sie vermöge ihres Standes nicht alle höher denn du und somit dem Herrn auch natürlich näher denn du? Warum aber bleibt ihnen der Herr ferne und wandelt mit dir, Hand in Hand verschlungen?
[1.71.15] O Henoch, wäre all dieses in dir nicht als eine freie, keineswegs verdiente Sache von oben, vom heiligen Vater gegeben, wahrlich, du würdest bis auf diesen Augenblick reden gleich mir, klagend über den gewaltigen Seelendurst und -hunger!
[1.71.16] Oder meinst du, dass ich nicht wüsste, es vermöchte kein Baum von dem andern etwas zu erlernen? Siehe, dafür könnte ich deiner Rede Rat halten; denn so wir aber unseren Kindern lehren müssen, das ihnen nottut – als: Gehen, Sprechen, Arbeiten –, um ihnen dadurch die Spur des allerhöchsten Gottes begreiflich zeigen zu können, – sage mir, sind wir denn mehr gegen Gott, als da sind unsere Kinder gegen uns? Ich glaube, wir sind unendlichmal weniger gegen Ihn! Wie soll und könnte uns denn der Weg anders als auf dem Weg des Unterrichts, wie es bei allen Kindern der Fall ist, gezeigt werden?
[1.71.17] O Henoch, du glaubtest, mit mir leicht fertig zu werden, da du mich zur Bruder- und Gottesliebe verwiesen hast; allein, es soll dir nicht so leicht werden, wie du meinst, meiner los zu werden! Zuvor will ich alles dieses erst an dir wohl gewahren, bis ich es annehme!
[1.71.18] Aber in deiner kurzen Abspeisung scheint eben nicht der höchste Grad der Nächstenliebe vergraben zu sein; wenn aber die Nächstenliebe ein Seitenstrahl der Liebe zu Gott ist, wahrlich, da weiß ich nicht, was ich von deiner Gottesliebe halten soll!
[1.71.19] Sehe zu, dass du dir nicht etwa bald selbst der alleinig Allernächste werdest!
[1.71.20] Ist es recht, dass durch jemandes Rede ein anderer geärgert werde? Siehe, wie sehr mich auch deine erste Rede erbaute, so sehr aber hat mich auch dein jetziges Wort geärgert! Denn ich weiß wohl, dass du ein Seher Gottes bist und hast das lebendige Wort; wüsste ich es nicht, nie käme ich zu dir und möchte lobpreisen ein solches Heiligtum in dir! Dass du mich aber darob tadeltest, da frage ich: Wer hieß dich denn, solches über deinen Kopf zu nehmen und mich darob zu tadeln?!
[1.71.21] O siehe, es ist nicht fein, den hungrigen, durstigen und weinenden Bruder in Gott so kurz von sich zu weisen!
[1.71.22] Geduld ist das Erste, und die Demut ist die Seele der Liebe! Henoch, ich weiß, dass du beider Meister bist; warum aber zeigst du mir die Stirne und scheinst das Herz vor mir verschlossen zu haben? Habe ich dir doch nie etwas zuleide getan! Kehre dich daher um, und sei mir ein Bruder in Gott statt ein kalter, trockener Wegweiser! Amen.“
[1.71.23] Nachdem aber der Henoch solches vom Sethlahem mit der größten, lächelnden Gelassenheit vernommen hatte, richtete er sich wieder auf und begegnete ihm mit folgenden Worten, sagend:
[1.71.24] „Sethlahem, siehe, wenn es also wäre, wie du laut deiner Rede des Dafürhaltens bist, wahrlich, du hättest mich lange schon zu deinen Füßen weinend erblickt; allein, dem ist es nicht also.
[1.71.25] Damit du aber meiner nicht verstandenen Rede wegen nicht ungerecht dich ärgernd deine Hütte betreten möchtest, so besänftige dein Herz, und höre, was ich dir sagen werde: Sethlahem, sehe hin in die blaue Ferne, und sage mir an das Gras, die Pflanzen, Bäume und Gesträuche, welcher Art und Gattung sie sind, ob also wie hier, oder ob anders, –
[1.71.26] was für Gestein, was für Erde, und was für Quellen, ob also wie hier, oder ob anders! Von welchen lebenden Wesen ist es bewohnt? Gibt es vielleicht auch Menschen dort? Und was ist es, das sie jetzt verrichten?
[1.71.27] Höre, Sethlahem, dein Schweigen sagt es dir, dass du solches nicht weißt! Nun frage ich dich aber: Auf welchem Wege könntest du dir solche Kenntnis wohl am füglichsten verschaffen?
[1.71.28] Ich setze den Fall, ich selbst wäre schon dort gewesen und hätte daselbst alles beobachtet. Es möchte sich aber fügen, dass mich die Väter in deiner Gegenwart darüber fragten und ich ihnen enthüllte die blaue Ferne. So du aber solches vernähmest und nicht wüsstest, wie, woher und wodurch, sprächst du dann zu mir: ‚Höre, was du nun geredet hast, gefällt mir ganz besonders! Auch ich möchte also sprechen über die Ferne wie du; siehe, ich will darob zu dir in die Lehre gehen, auf dass ich es von dir erlerne, solches zu reden!‘ So ich dir dann erwidern würde: ‚Höre, solches lässt sich mit innerer Überzeugung nicht erlernen für den, der nach innerer Überzeugung trachtet, – und welch ein mühsamer Weg zur reinsten Erkenntnis wäre dieses und wie unfruchtbar!
[1.71.29] Aber sehe, da über diese Berge geht der nächste Weg dahin! Bemühe dich dahin, und sei versichert, in drei Tagen bist du wieder hier und wirst gleich mir darüber Reden voll Weisheit führen können, wie solche zu führen mit innerer Lebenskraft du sonst in Jahren nicht erlernen möchtest!‘
[1.71.30] Nun kämest du aber wieder zu mir und möchtest mich ob solches kurzen, aber wahrheitsvollen Rates des Mangels der Liebe beschuldigen! Sage dir selbst, wie verhält sich eine solche Beschuldigung als lieblos zu solchem Rat, nach welchem du sicher in drei Tagen das erreichen mögest, was dir sonst wohl kaum Tausende von Jahren geben möchten?!
[1.71.31] Siehe, da hast du mit deiner Weisheit einen scharfen Hieb in den Wind gemacht!
[1.71.32] Der Weg ist dir gezeigt. Hast du den Mut nicht, allein ihn zu wandeln, so komme und prüfe mich, ob als Bruder ich dich mit aller Liebe geleiten werde oder nicht; ich glaube aber, darin möchtest du schwerlich je einen Klagegrund finden!
[1.71.33] Aber so ich dir tun möchte nach deinem törichten Verlangen, siehe, da müsste ich dir wohl eher Feind werden, auf dass ich vermöchte, in meiner Verworfenheit dich, meinen lieben, armen Bruder in Gott und Adam, zu betrügen!
[1.71.34] Siehe, das Wissen wird dir ewig nichts nützen zum Leben; aber so du handeln wirst nach der Wahrheit, so wirst du das Zeugnis der Wahrheit finden, und es wird sein das Zeugnis der Liebe – und die Liebe das ewige Leben in Gott! Amen, amen, amen.“
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