Am 21. Januar 1841
[1.56.1] Als aber der Henoch ausgeredet hatte seine kurzgefasste Deutung, siehe, da sprang Seth auf vor Freuden, umarmte den Henoch und sprach: „O Vater Adam, wie kurz doch ist das Wort der Liebe auf dem hellen Pfad ihrer Weisheit und wie doch so voll Klarheit, Leben, Kraft und Wirkung!
[1.56.2] So aber des Menschen schwerer Verstand mühsam all die Sterne zählt, dem Pfad der Winde zweifelnd schwer nachspürt, den Zug der Wolken angafft, die schlafenden Nebel in den Tälern aufschrecken will von ihrer segnenden Ruhe, die Tautropfen gewichtig prüft und das Gras, die Pflanzen, die Gesträuche und alle die Bäume beinahe närrisch und geistlos fragen sollte, wie sie allenfalls die Nacht hindurch geruht haben, um endlich nach allen diesen leeren Erkundigungen ein ebenso schwach gewichtiges Urteil zu schöpfen, aus dem man allenfalls mit einer erratenen Halbgewissheit dann auf die künftige Ernte schließen möchte, ob sie gut, mittel, oder schlecht ausfallen wird, und das noch dazu auf allzeit einer lange dauernden Beratung beruhend, – da ist ja eine solche Deutung Henochs rein vom Himmel, die uns enthebt aller ferneren solcher ganz sinn- und wertlosen Beobachtungen, an denen nun nach meiner Erkenntnis geradeso viel liegt wie an der Zeit, die vor hundert Jahren schon spurlos verflossen ist.
[1.56.3] O du lieber Henoch du, fahre du nur fort, die Zeichen des Lebens in uns zu deuten, und ich bin überzeugt, dass uns allen eine solche Zeichendeutung unendlichmal mehr nützen wird, als ob wir vermöchten mit all den Sternen, Sonnen und Monden Zwiesprache zu führen, verstünden aber nichts von dem, das doch der Grund aller unserer Regungen ist, und was alles uns unsere Gefühle und Empfindungen sagen, und auf welche Weise die ewige Liebe sich etwa kund- und wohl zu erkennen gibt in uns, und das ewige Leben durch sie!
[1.56.4] O Kinder, das steht unendlich höher als alle Erntefelder und Obstbäume, auf die wir doch trotz aller unserer Beobachtungen und Vorsabbatsdeutungen auch nicht einen Apfel oder eine sonstige Frucht zu bringen imstande sind, und trotz allen unseren unnötigen Sorgen der Herr doch nur tut, was Seiner Liebe, Weisheit und Heiligkeit gemäß ist!
[1.56.5] O Henoch, rede und deute du nur zu, damit auch unser starr gewordenes Holz und unsere Reiser nach Kenan bald segenvolle Früchte des ewigen, unvergänglichen Lebens bringen möchten! Amen.“
[1.56.6] Und darauf aber erhob sich Adam und sagte: „Amen, gesegnet sei du, mein geliebter Ahbel-Seth, und hochgesegnet die lebendige Zunge Henochs und gesegnet alle meine Kinder, die eines guten und frommen Herzens sind!
[1.56.7] Aber nun lasset uns gehen und treu besuchen alle unsere arbeitenden Kinder und ihnen verkünden den morgigen Sabbat und das, was sie zu erwarten haben am selben von der so hochgesegneten Zunge unseres lieben, weisen und frommen Henoch!
[1.56.8] Der Herr möge jeden unserer Schritte vor jeglichem Ungemach behüten! Amen.“
[1.56.9] Nach dem erhoben sie sich alle, und die Eva an der Seite Seths wie der Adam an der Seite Henochs traten wohlgemut aus der Hütte. Die Kinder verneigten sich alle vor der alten Wohnung ihres Vaters und ließen denselben dann voran an der Seite Henochs gehen; diesem folgte dann der Seth mit der Eva und dieser endlich die übrigen anwesenden Hauptstammkinder.
[1.56.10] Als sie also nun gegen Morgen ihre Richtung nahmen und schon eine ziemliche Strecke zurückgelegt hatten, siehe, da kamen sie zu einer Grotte, aus welcher eine reinste Quelle floss, und es war diese Grotte bekannt unter dem Namen ‚Adamsruhe‘ und die Quelle aber unter dem Namen ‚Evas Tränenbächlein‘. Da pflegte Adam allzeit auszuruhen; und so wurde auch diesmal daselbst zu- und eingesprochen.
[1.56.11] Die Grotte war sehr geräumig, so zwar, dass darinnen leichtlich zwanzigtausend Menschen unterkommen mochten; die Hauptsache dieser Grotte aber war folgende Seltenheit, dass sie nämlich fürs Erste eine Höhe von hundert Mannslängen hatte und war viel mehr ein Tunnel durch einen Berg hindurch als eine eigentliche Grotte, welcher Tunnel aber darum gar so großartig berühmt war, da er durch einen grün und gelb kristallenen großen Gebirgskegel den Durchgang gegen Morgen bildete, in dessen Mitte eine hochspringende Quelle sich befand, über welcher sich durch verschieden gefärbte Kristallprismen das Licht der Sonne in tausendartigen Färbungen durcharbeitete.
[1.56.12] Wie auch das Licht matter sich an den verschiedensten Punkten durcharbeitete und diesen ziemlich langen Tunnel wunderbar beleuchtete, so war aber doch der schon bekannte Mittelpunkt mit der springenden Quelle der alles euch bis jetzt Bekannte himmelweit übertreffende, wunderbar reizend herrlichste Teil dieses Tunnels.
[1.56.13] Sehet, darum war auch diese Durchgangsgrotte ein Lieblingsort des Adam, und es war außer den Hauptstammkindern wohl selten den anderen gestattet, diese Grotte zu passieren, – jedoch aber etwa nicht aus Neid, sondern bloß aus Furcht nur, dass nicht etwa ein leicht erregbares Gemüt zur Anbetung eines solchen Wunderortes hingerissen werden möchte.
[1.56.14] Als sich nun diese Hauptgesellschaft in der Mitte der Grotte befand, allda um das weite, runde, goldene Wasserbecken eine Menge wohlgeformter, verschiedenfarbiger Edelkristallpflöcke lagen, unter denen einer ‚Der goldene Vaterstuhl‘ hieß, da ließ sich Adam ein wenig nieder, und also durften auch alle übrigen seinem Beispiel folgen; nur der Henoch blieb neben dem Adam stehen.
[1.56.15] Als aber Adam solches bemerkte, siehe, da sagte er zu ihm: „Lieber Henoch, warum tust du nicht, was ich und die übrigen tun? Siehe, hier zu meiner Rechten ruht ein recht bequemer, grüner Kristallpflock; setze dich hin und ruhe samt mir und den übrigen!“
[1.56.16] Und der Henoch tat alsobald, was der Adam wünschte, sagte aber: „O Vater Adam, siehe, da du es mir erlaubst, zu ruhen auf dem Steine Seths, so mag ich es ja wohl tun, da dein Wort höher steht denn das Wort aller übrigen Väter; so ich mich aber ohne deine Erlaubnis darauf gesetzt hätte, siehe, da hätte ich in eine große Vermessenheit mich gestürzt und hätte es wohl verdient, von Seth und allen anderen Vätern mit zornigen Augen angesehen zu werden! O liebe Väter, verzeiht, da ich solches zu tun mir getraue; denn ich will stets im Gehorsam handeln gegen alle Väter, und es soll nie etwas begangen werden von mir, das da je vermöchte, mich ihrer Liebe unwert zu machen! Amen.“
[1.56.17] Und es stand der Seth auf und sagte, zum Henoch sich kehrend: „O du mein geliebtester, überdemütig bescheidener Henoch, weißt du denn nicht, dass du der schöne Mittelpunkt unserer Liebe schon lange geworden bist?! Siehe, siehe, auf meinem Kopf würdest du dir sicher einen Sitz bereiten; denn in unseren Herzen hast solchen du lange schon dir zubereitet, – und der Kopf ist nicht vorzüglicher denn das Herz!
[1.56.18] Da wir dir schon lange unser Lieben und Leben zum Wohnsitz gaben, siehe, wie möchte uns dann eines kalten Steines kümmern, auf den du dich setzt? Darüber sei nur ganz vollends ruhig. Aber siehe, es kümmert mich, und sicher auch alle anderen, etwas anderes: Siehe diesen herrlichen Punkt! Lieber Henoch, lasse deiner gesegneten Zunge hier einen ganz ungehinderten, freien Lauf! Amen.“
[1.56.19] Da aber Adam und die übrigen solchen frommen Wunsch Seths vernommen hatten, siehe, da wurde Henoch alsobald von allen Seiten bestürmt, etwas Liebegutes und Erhabenes über diesen Tunnel zu sagen aus seinem Herzen.
[1.56.20] Und der so fromm gehorsame Henoch ließ sich, wie sonst, auch diesmal den Wunsch nicht zweimal erwidern, sondern stand alsobald auf, verneigte sich gegen die Väter und fing an, folgende sehr denkwürdige Rede an alle seine Väter zu richten, sagend nämlich:
[1.56.21] „O liebe Väter, an diesem Ort der Ruhe Adams werde ich aufgefordert zu reden, ohne zu wissen, was ich eigentlich reden und worüber ich sprechen soll? O liebe Väter, bisher war es noch immer Sitte, dass, so einer von dem anderen irgendetwas erfahren wollte, er den Geheimnisträger doch wenigstens mit einer Frage belästigte, dadurch er selbem zu verstehen gab, dass er wieder irgendetwas noch nicht weiß.
[1.56.22] Allein ich aber soll nun reden, ohne dass ich um etwas gefragt wurde!
[1.56.23] So sei es denn auch; denn da ist meine Zunge frei und kann da aussprechen, was mein Auge mit glühenden Zeichen im Herzen aufrechtstehend in klarsten Zügen erschaut! Und diese Zeichen sind lebendige Züge der ewigen Liebe und der allerbarmenden Gnade des ewigen, heiligen Vaters in mir; und so will ich denn einmal aus diesen reden und führen ein unsterblich Gespräch aus meinem Gott und eurem Gott, aus meinem heiligen Vater, der voll Liebe ist, und aus eurem heiligen Vater, der voll Liebe, Gnade und aller Erbarmung ist!
[1.56.24] O liebe Väter, diese Grotte ist ein treues Bild des menschlichen Herzens, wie es sich verhält zu Gott! Wohin wir nur immer unsere Augen richten mögen, können wir durchaus keinen undurchschimmernden Punkt gewahren, außer den Boden, der uns trägt.
[1.56.25] Sehen wir hinauf in die hohe, von tausendfarbigen Lichtern hell erleuchtete Kuppe, und wie herrlich eben dieses schöne Licht diese lebendige, hochspringende Quelle wunderbar scheinend belebt!
[1.56.26] Wer vermöchte da die Pracht zu besprechen, die tausendfach verändert in einem Augenblick schon des Sehers Auge überrascht, und jeder herabfallende Tropfen einem Stern gleicht, der da kühn den Himmel anstrebte und dann aus Strafe für seine verwegene Tollkühnheit verglühend wieder vom selben geschleudert würde.
[1.56.27] Ja, wenn wir unsere Augen nach Morgen wenden, so leuchtet uns der weite Gang ein grünes Licht entgegen; sehen wir dahin, woher wir gekommen sind, so leuchtet der Gang uns ein gelbes und endlich gar ein blutrotes Licht entgegen; und so überrascht unser Auge, dahin wir es nur immer wenden mögen, doch stets ein anderes Licht!
[1.56.28] Wenn wir uns dann satt gestaunt haben, dann sagen wir, von der großen Herrlichkeit durch und durch ergriffen: ‚O großer Gott, wie erhaben schön und überaus herrlich ist alles, was Du gemacht hast, Herr! Deine Werke achten wir, und Du segnest uns mit eitel wonniger Lust dafür, – denn für uns hast Du sie ja gemacht, und des freuen wir uns über die Maßen und wollen Dich dafür allzeit loben, preisen und Dir danken, dass Du solche herrlichen Dinge gemacht hast für uns, die Du in Deiner großen Erbarmung für würdig befunden hast, Deine Kinder zu nennen.‘
[1.56.29] O liebe Väter, dass wir solches tun, ist ja recht und billig; aber wenn wir nur ein wenig in unser Herz blicken wollen und dasselbe fragen, ob der große Werkmeister dieser erhabenen Dinge aus Seiner unendlichen Liebe und Weisheit ebendiese erhabenen Wunderdinge bloß zu unserer sinnlichen Belustigung gemacht hat, oder ob Er uns vielleicht in solchen Dingen nicht andere Dinge verborgen hat, die wir zunächst suchen und finden sollen zur wahren Verherrlichung Seines allerheiligsten Namens, – o liebe Väter, das ist eine andere Frage!
[1.56.30] Sehet, nur eine Sonne lässt ihre weißen Strahlen fallen über den hohen Scheitel dieses Edelkristallberges; aber welche Wirkung des einen Lichtes der Sonne in dieser Grotte!
[1.56.31] O sehen wir hinauf! Wer vermöchte da die zahllosen Formen übersehen, die jeder unruhige Blick schon verunendlichfältigt, – und doch ist alles Wirkung eines und desselben Lichtes! Jedes Wellchen im goldenen Becken, wie tausendfärbig wird es, so ein zurückfallender Tropfen seine Regsamkeit stört, und doch ist alles Wirkung eines und desselben Lichtes!
[1.56.32] O liebe Väter, sehet, uns selbst hat der Herr eben hier ein gar großes Denkmal gesetzt!
[1.56.33] Wir sind diese Grotte in unserem irdischen Dasein mit einem Eingang vom Abend und einem Ausgang gegen den ewigen Morgen. In der Mitte sind wir, wie wir sind in des irdischen Lebens Fülle, und treten vom Abend her als Kinder in die Gnade und Erbarmung und sehen da nichts als nur den Mittelpunkt des Lebens vor uns, ohne zu bedenken, dass diese Lebensgrotte nicht geschlossen ist, sondern uns allen gar wohl einen entgegengesetzten Ausgang gen Morgen stets offenhält.
[1.56.34] O liebe Väter, ein einfach Licht ist auch das holdselige Flämmchen der ewigen Liebe! Unsere Sehe der Seele ist diese erhabene Kuppe. Diese Quelle ist gleich unserem Geiste, der beständig zum Licht emporstrebt, aber beständig zurückgewiesen wird mit der Lehre:
[1.56.35] ‚Was strebst du, Ohnmächtiger, empor?! Da ist kein Weg für dich, sondern bleibe oder kehre in das goldene Becken deiner demütig gehorsamen Liebe zurück! Beschaue dich da in der prüfenden Täuschung deines Seelenlichtes, und sei allzeit bereit, dem Zuge des Bächleins gen Morgen zu folgen; da erst werden dich mächtige Strahlen der Gnadensonne ergreifen und werden dich aufziehen als Feuerwölkchen in vollster Freiheit deines Lebens dahin, woher du gekommen bist!‘
[1.56.36] O liebe Väter! Da wir schon früher in der Hütte der Zeichen gedachten, so möchte auch diese Deutung dazu gerechnet werden! Amen.“
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