[1.55.1] Als aber Adam und die übrigen Väter solche erklärende Rede vernommen hatten, siehe, da nahm sie alle hoch wunder, dass der Henoch so hohe Worte der Weisheit zu reden vermochte und bei allem dem ein so anspruchsloser, junger Mann war, dass ihm wohl niemand ansehen mochte solche hohe Weisheit, die selbst den Adam aus sich selbst zu schweigen nötigte!
[1.55.2] Und es nahm der Kenan das Wort und sagte: „O Vater Adam, siehe, bisher war ich ein Seher und musste dir an jedem Vorsabbat meine und deine Gesichte und frühnächtlichen Beobachtungen am Firmament sowohl als auch auf der Erde deutend erzählen, auf dass du sie dann segnetest und wiedergäbest deinen Kindern!
[1.55.3] Nun aber hat der Herr die Zunge Henochs mit eigener Hand gesegnet und gelöst! Siehe, daher wagt meine Zunge sich nicht mehr zu rühren vor dir, vor den übrigen Vätern und Kindern; es möchte daher auch dieses Geschäft der liebevolle, weise Henoch auf sich nehmen. Haben wir auch einst seinen Leib gewaschen mit dem Morgentau, so tut es aber uns nun selbst umso mehr not, von ihm gewaschen zu werden mit dem Morgentau seines Geistes, der da reichlich träufelt von seiner gesegneten Zunge!
[1.55.4] O Henoch, wasche mich nach deiner Gnade von oben; denn ich bekenne und erkenne: Wer da nicht gewaschen wird mit diesem Wasser, der wird zugrunde gehen, und es wird sein Leben verwelken wie das des Grases, da kein belebender Tropfen hingefallen ist.
[1.55.5] Der Herr hat es nur einem ganz gegeben, damit es die anderen von ihm nehmen möchten, sooft sie es gebrauchen wollen. Denn das Leben ist zwar wohl allen gegeben, aber nicht so die Unsterblichkeit; die trägt nur einer für alle in sich. Und wer sie von ihm nehmen will, der wird, wie er, unsterblich werden; wer sie aber übersehen wird, dessen Leben wird vom Tode genommen werden zu einer Zeit, da der große Herr Seine Sichel an das dürre Gras legen wird.
[1.55.6] So wir unsere Hand an unser Herz legen, so nehmen wir wohl wahr dessen Schlagen in wohlabgemessenen Räumen – desgleichen wird es auch der Henoch wahrnehmen –; aber so wir unser schlagendes Herz fragen: ‚Wohin schlägst du, unruhiges Herz?‘, so werden wir aus demselben eine dumpf verworrene Antwort bekommen, die da schauerlich genug lauten wird: ‚Ich schlage beständig an die eherne Pforte des ewigen Todes und erwarte unter großem Bangen, bis dieselbe, sich öffnend, mich auf ewig verschlingen wird!‘
[1.55.7] So wir aber das ebenso schlagende Herz des Henoch fragen: ‚Wohin schlägst denn du, liebetreues, frommes Herz?‘, so wird es uns in den klarsten Akzenten erwidern: ‚Höret Brüder, ich schlage beständig an die hellen Pforten des Lebens und bin voll der süßesten, überzeugenden Gewissheit, dass sich diese bald öffnen werden, um mich in die endlose Fülle des Lebens aus Gott aufzunehmen, davon jetzt nur ein kleiner Tautropfen mich beseelt und belebt!‘
[1.55.8] O Väter, Brüder und Kinder, dass es also ist, habe ich gar oft in meinen Gesichten gesehen; dass es aber nicht also bleiben soll, das lehrt jeden die eigene Liebe zum Leben: Wir können es uns gegenseitig nicht geben, da wir es nicht haben; aber wir können es nehmen von dem, der es hat. Der Henoch hat es empfangen von oben; so er es uns aber geben will und es auch darf, so ist es ja an uns, es zu nehmen.
[1.55.9] O Henoch, daher rühre du nur fleißig deine Zunge voll Lebens, damit wir alle von der Fußsohle bis zum Scheitel möchten gewaschen werden mit dem Lebenstau, der da reichlich kommt aus des Lebens geistigem, ewigem Morgen von Gott über deine gesegnete Zunge; daher, Vater Adam, lasse nun an meiner statt auftreten den Henoch und uns deuten und wohl zeigen die Zeichen des Lebens am Himmel wie auf der Erde! Amen.“
[1.55.10] Und als der Kenan solche gute Rede beendet hatte, siehe, da erhob sich Adam und sprach: „Kenan, du bist meinem Wunsch zuvorgekommen; daher möge Henoch in aller Kürze tun, danach euch alle verlangt und mich gewaltig dürstet! Amen.“
[1.55.11] Henoch aber erhob sich alsobald voll Ehrfurcht und sprach: „O Väter, so höret! Es gehen die Sterne ihren Gang und schimmern bald mehr, bald weniger, und es wehen auch die Winde bald von einem und bald wieder von einem anderen Ort her und ziehen rauschend ihre Wege ferne hin, und tragen oft leichte Wölkchen, oft ganze Massen auf ihren schwankenden Flügeln fort, und so fällt der Tau und der Regen, und es fächelt das Gras, und es schwingen sich die Bäume mit zitterndem Laub, und wir wissen nirgends den Grund davon und möchten uns darüber die Köpfe zerstoßen; wenn aber am Ende die Ernte kommt, da sagen wir: ‚Der Herr hat Seine Elemente weise geleitet, da die Ernte so gut ausgefallen ist!‘, und es kümmert uns dann wenig mehr, wohin die Winde die Wolken getragen haben.
[1.55.12] Sehet, das ist auch die beste Deutung! Denn was der Herr tut, ist weise getan; wir aber tun dabei am besten, so wir alles sorglos dem Herrn überlassen und nicht deuten wollen Seine Wege, sondern dafür lieber uns selbst suchen und das Leben in uns.
[1.55.13] Sehet, das ist die beste Deutung, in der alles Geheimnis verborgen ist. Doch auf dem Wege mehreres davon. Amen.“
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