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136. Gespräche über Jesus. Des Franziskaners religiöse Erfahrungen. Gleichnis vom Mann ohne Hochzeitskleid. Gleichnis von den zehn Jungfrauen. Über Gnade und Vergebung.

[1.136.1] Spricht der Graf: „Ja wer oder was ist denn so ganz eigentlich Ihr Herr Jesus? Ist das etwa derselbe, von dem die jüdische oder römische Fabel sagt, dass er ein Sohn Gottes gewesen wäre, und von dem Sie doch selbst früher einmal sagten, dass Sie nie an ihn und seine römisch-kirchlichen Alfanzereien geglaubt haben?! Oder gibt es noch irgendeinen andern Jesus?“

[1.136.2] Spricht der Franziskaner: „Ja, derselbe Jesus, von dem die evangelische Tradition sagt, dass Er Gottes Sohn ist und bleibt – als ein Herr Himmels und der Erde ewig. Ich glaubte zwar bei meinen Lebzeiten auf der Erde nicht dieser Tradition, weil sie von Rom aus zu sehr missbraucht ward und ich daraus den notwendigen Schluss ziehen musste: Wäre an der Sache etwas, wäre sie nicht ein Werk der früheren herrschsüchtigen Hierarchen, so wäre es ja doch unmöglich, mit solch einer von Gott abstammenden Lehre eben solch einen allerschändlichsten Unfug zu treiben. Denn es sind in der römischen Hierarchie in einem Zeitraum von kaum 1.200 Jahren in summa summarum ja doch Dinge geschehen, vor denen die ganze Hölle mit dem ganzen Heer ihrer Teufel den tiefsten Respekt haben muss. Und der im grauen Hintergrund weilende Stifter von solch einer Lehre, deren römische Diener als wahre Großmeister von den grauenerregendsten Teufeleien in der untersten Hölle florieren müssten – soll ein Sohn des Allerhöchsten sein?! Wahrlich, Herr Graf, so was zu glauben wäre für meinen Geist keine kleine Aufgabe gewesen.

[1.136.3] Als ich aber später einmal die vollkommene Bibel in meine Hände bekam von einem protestantischen Priester – da freilich ging mir ein ganz anderes Licht auf, und ich trachtete dann, um jeden Preis aus der römischen Geistesmördergrube zu entkommen und ward darauf lieber ein gemeiner Honved (ungarischer Soldat) als je wieder ein römisch-katholischer Völkergeist-Ermordungsgehilfe. Denn ich dachte mir: Es ist noch immer besser, ein Fleisch- als wie ein Geistesmörder zu sein.

[1.136.4] Es kann daher der obbesagte Jesus gar wohl Gottes Sohn sein und die Macht haben, uns zu helfen, wenn Er auch noch so von der schändlichsten Römerin verleugnet ward; denn Er ist auch trotz des Verrats des schändlichen Apostels Judas Ischariot doch am dritten Tage aus höchsteigener Macht vom Tode erstanden und hat demselben alle Macht genommen. Und sehen Sie, Herr Graf, von eben diesem Jesus ward uns durch einen unsichtbaren Mund Hilfe angeboten! Wir haben sie alle vernommen die köstlichen Worte. Und nun deliberieren [erwägen] wir noch, ob wir sie annehmen sollen oder nicht! Und hauptsächlich Sie, Herr Graf, sind der hartnäckigste Anstandserheber und wollen sich nicht dazu verstehen – als ob Sie in diesem allerscheußlichst elenden Zustand Gott weiß was alles vergeben müssten. Ich rate es Ihnen daher nun zum letzten Mal, sich zu entschließen, die angebotene Hilfe anzunehmen, oder im Gegenfall, uns andere nicht mehr zu beirren, die angebotene Hilfe anzunehmen!“

[1.136.5] Spricht der Graf: „Was euch nicht schaden wird, das wird ja auch mich nicht umbringen! Ich will auch die Hilfe annehmen! Aber einige notwendige Bedingungen könnten wir dabei denn doch in den Vorschlag bringen, sonst kann es uns hier zum zweiten Mal ergehen als wie auf der Erde, wo man sich auch aus Gnade und Ungnade ergeben hat und erntete dann die löbliche Ungnade. So z. B. wäre meines Erachtens eine wohlgenährte Rachenehmung an unseren irdischen Feinden eine Hauptbedingung, und für unsere Persönlichkeit eine volle Schadloshaltung für alles auf der Welt Verlorene keine zu verachtende Bedingung.“

[1.136.6] Spricht der Franziskaner: „Wäre nicht schlecht! Aber was fällt Ihnen doch alles für dummes, höchst unkonsequentes Zeug ein!? Wenn Sie z. B. auf der Erde irgend unter die Räuber gerieten, und jemand Starker wollte ihnen helfen, Sie aber schlügen ihm Bedingungen vor, unter denen Sie seine Hilfe annehmen – sagen Sie mir, würden Sie darob nicht sogar die Eisbären auszulachen anfangen? Wann hat man doch je gehört, dass ein Bettler dem Wohltäter Bedingungen vorgeschrieben hätte, unter denen er eine Wohltat anzunehmen willens sei? Ah, ah, Herr Graf, das ist denn doch etwas zu dumm! Da lässt sich’s nicht mehr darüber reden. Unser irdisches Sich-Ergebungs-Verhältnis war ja ganz etwas anderes. Dort hat uns niemand eine Hilfe angeboten; sondern dort hieß es: ‚Gnade und Ungnade unter verheißener Fürsprache!‘ Aber von einer Hilfe war dort nie auch nur die allerleiseste Rede. Hier aber ist uns doch ausdrücklich volle Hilfe angetragen, und keine Gnade oder Ungnade. Wie kann man das nachher mit dem irdischen Zustand, der uns des Leibes Tod brachte, nur in eine allerentfernteste Parallele ziehen?! Ich bitte Sie, Herr Graf, sind Sie doch um Gottes willen nicht gar so vernagelt!“

[1.136.7] Spricht der Graf: „Ja, ja! Sie haben schon wieder recht! Ich bin wohl etwas dumm, das sehe ich nun schon ein. Aber ein gebranntes Kind fürchtet stets das Feuer. Es werden hier wohl ganz andere Lebensverhältnisse sein, als wie sie auf der scheußlichen Erde gang und gäbe waren. Aber an sich selbst traurig genug erfahrene Sachen haften tiefer in der Seele eines Unglücklichen, als dass man sie sozusagen von heute bis morgen aus dem Leib schaffen könnte. Und es ist mir denn doch auch sicher etwas zugutezuhalten, wenn ich in der Annahme der angebotenen Hilfe, die uns allen allerdings über alles willkommen sein muss, ein wenig gezaudert habe.

[1.136.8] Der Feldherr Paskiewitsch hat uns allen auch Amnestie verheißen und sie uns für seine Person auch gewährt. Als wir aber dann – sogar unter russischer Fürsprachsgarantie – an die Österreicher ausgeliefert wurden, da war sogleich ein anderes Gesicht zu bemerken, und von einer Amnestie war bis zur Stunde noch keine Rede. Aus solchen irdischen traurigsten Erfahrungsprämissen, die man nur gar zu lebendig mit herübergenommen hat und bisher noch keine besseren zu sammeln die Gelegenheit hatte, muss ein Mensch, Geist oder Vieh denn doch etwas stutzig werden und für die Zukunft, so viel es irgend in der eigenen Kraft liegt, in allem ganz verzweifelt vorsichtig zu Werke gehen.

[1.136.9] Ich erkenne nun ganz wohl, dass es sicher einen Gott geben muss, ohne den wir sicher gar zunichtegeworden wären und kein Dasein hätten und haben könnten. Aber dieser Gott ist allein allmächtig; gegen Sein Urteil findet kein Rekurs statt; was Er will, das muss unwandelbar geschehen. Und Freunderl, darin liegt mehr als Grund zur Übergenüge, mit der Annahme selbst von einer angebotenen Hilfe wohl bedenklich zu zaudern und vorher alle Umstände genau zu erwägen, die möglicherweise mit der angebotenen Hilfe vereint sein dürften. Sieh, ich kann mich aus meiner Jugend noch sehr genau erinnern, dass ich einmal ein Evangelium gelesen habe, wo von einem großen Gastmahl die Rede ist, zu dem am Ende, da die Geladenen nicht kommen wollten, alle an den Straßen, Gassen und Zäunen weilenden Proletarier durch die vielen Diener des mächtigen Gastgebers förmlich bei den Haaren herbeigezogen wurden. Als der große Speisesaal auf diese Weise gefüllt ward, da kam auch der Gastherr in den Saal, besah die Proletariergäste und fand einen, der kein sogenanntes Hochzeitsgewand anhatte. Und siehe, diesen ließ er sobald ergreifen und werfen ins finsterste Gefängnis. G’spürst was, Freunderl, was ich damit sagen will? Sieh, was hat der arme Teufel wohl verschuldet? Die Diener zogen ihn, wie die andern, die vielleicht zufällig besser bekleidet waren, von der Straße zum Gastmahl und nahmen keinen Anstoß an seiner Kleidung. Als aber dann der Herr kommt, da verurteilt er so ganz mir und dir nichts den armen Teufel, der doch sicher ohne sein Verschulden in den Speisesaal gekommen ist.

[1.136.10] Wenn man dieser Sache, durch die offenbar die Gottheit in Ihrem sehr willkürlichen Handeln dargestellt wird, etwas näher nachdenkt, so kann einem sogar aus rein evangelischen Rücksichten wohl niemand verargen, so man sogar bei angebotener Hilfe von oben so viel als nur immer möglich behutsam zu Werke geht, bei der Annahme derselben. Dem Judas ward auch der Bissen gereicht; aber auf diesen ward er dann erst recht des Teufels. Sagen Sie mir nun, ob Sie auf diese meine gegründete Motivierung mich ob meiner Zauderei noch für so dumm halten, als wie Sie es mir ehedem offen ins Angesicht ohne alle Schonung sagten?“

[1.136.11] Spricht der Franziskaner: „No, no, no, der Herr Graf sind ja ganz famos in der Bibel bewandert! Das freut mich umso mehr, dass Sie hier gerade einen Text aus der Bibel zum Vorschein bringen, der mir auch allzeit im höchsten Grad ungerecht vorgekommen ist. Es gibt zwar noch einige andere Texte, durch die der sonst überaus gute Herr Jesus Sich wahrlich als ein unerbittliches und zugleich, nach irdischem Sinn betrachtet, ungerechtes Wesen beurkundet. Aber dafür gibt es freilich wieder eine Menge Texte, die sehr trostreich sind. Ihre Bedenklichkeit, von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist hier freilich sehr zu entschuldigen. Denn die Macht, in wessen Händen sie sich auch befinden mag, hat stets das unwiderlegbar für sich, dass sie die Ohnmacht ewig im Schach zu halten vermag und tun kann, was sie will. Aber das Gute dabei ist, dass sich keine wahre Macht ohne die größtmögliche und vollkommene Weisheit denken lässt. Und mit einem höchstweisen Wesen ist es immer leichter auszukommen als wie mit einem Dummen. Und so meine ich, wir könnten es denn doch wagen, die angebotene Hilfe anzunehmen.

[1.136.12] Wenden wir uns denn im Herzen an Jesus, den Gekreuzigten, und warten dann mit einiger Geduld ab, was aus solcher unserer Herzenswendung werden wird. Sieht da was Gutes heraus, so haben wir keine schlechte Wendung gemacht. Soll aber aus dieser Wendung für uns etwas Schlechtaussehendes zum Vorschein kommen, no, so kehren wir in unsern jetzigen Zustand wieder zurück.“

[1.136.13] Spricht der Graf: „Wäre alles gut und recht! Wenn eine allerhöchste Weisheit nicht dadurch eine höchste Weisheit wäre, dass sie in sich selbst dergestalt als abgeschlossen erscheinen muss, als wie ein mathematischer Beweis. Zwei gleiche Größen zu wieder zwei gleichen Größen addiert gibt für alle Ewigkeit vier gleiche Größen. Da lässt sich ewig nichts herabhandeln, und so ist es auch mit der höchsten Weisheit der Gottheit. Was Sie einmal ausspricht, das ist ausgesprochen für die Ewigkeit. Das zeigt auch Jesus sehr klar in einem Text dadurch an, da Er sagt: ‚Himmel und Erde werden vergehen, aber Mein Wort ewig nimmer.‘ – Wenn wir nach unserer Herzenswendung zu Ihm etwa so was vernähmen: ‚Hinweg mit euch, ihr Täter des Übels!‘ – was dann, Freunderl? Ich meine, solange wir von Ihm nichts verlangen, hat Er auch vernünftigermaßen nicht vonnöten, uns entweder etwas zu geben, weder Gutes noch Schlechtes. Verlangen wir aber nur einmal etwas, da haben wir Ihm aber schon auch zugleich das Tor geöffnet, mit uns zu tun, was Er nach Seiner unwandelbaren Weisheit will.

[1.136.14] Mir fällt jetzt gerade wieder ein recht passender Text zur Belegung dieser meiner guten Meinung ein, und der hat, glaube ich, zehn Jungfrauen im Schilde, davon die Hälfte weise und die Hälfte töricht war. Alle erwarteten – nach wahrscheinlich damaliger morgenländischer Sitte – ihren Bräutigam. Die weisere Hälfte versah ihre Lampen mit Öl, und die törichte Hälfte aber zufällig nicht. Als aber in der Nacht die Kunde kam, dass der Bräutigam kommen werde, und wahrscheinlich schon etwa in einer Stunde, da baten die Törichten die Weisen, dass sie ihnen etwas Öl in ihre leeren Lampen geben möchten. Aber die eisernen Weisen verweigerten solches den Törichten, wahrscheinlich aus purer christlicher Nächstenliebe oder was? Und die Törichten waren dadurch genötigt, zu einem Kaufmann zu gehen und sich dort ums Geld ihre Lampen mit Öl füllen zu lassen. Sie kehren darauf sogleich in das Bräutigam-Erwartungshaus zurück voll guten Willens. Aber halt an! Schon ist die Haustüre verriegelt! Denn der Bräutigam ist bald darauf gekommen, und zwar früher als sie mit vollen Öllampen ankamen. Als die Armen dann ganz harmlos an die Türe pochten und um den Einlass baten, da donnerte des Bräutigams Stimme ihnen ganz rau entgegen: ‚Hinweg mit euch! Ich habe euch noch nie erkannt und kenne euch nicht!‘

[1.136.15] Die Sache, mit einem allein menschlich-ehrlichen Sinn betrachtet, ist impertinent grob, roh, ungerecht und, streng genommen, auch unwahr, wenn unter dem Bräutigam die Gottheit zu verstehen ist. Denn wie kann die Gottheit zu jemanden sagen: „Ich kenne dich nicht!“ – wo Sie andererseits wieder lehrt, dass Sie sogar alle Haare am Haupt eines jeden Menschen zählt. Aber wer kann der allmächtigen Gottheit unrecht geben? Sie lässt kalt sein zum Verzweifeln, und wenn dabei Tausende erfrieren. Und wenn Millionen armer Teufel um Wärme bitten, so bleibt es dennoch kalt, so lange die Gottheit kalt haben will, Ihrer Weisheit zufolge. So lässt Sie ohne Gnade und Pardon die schönsten Saaten durch Fröste und Hagel zerstören, und niemand kann Ihr dagegen einen Damm setzen. Ich sage dir, wer sich von der Gottheit zu abhängig macht, der hat das Elend schon in sich. Was hätte denn den fünf oder wie viel törichten Jungfrauen geschehen können, so sie gar nicht zum Bräutigamshaus wieder zurückgekehrt wären? Ärgeres kaum, als so, da sie mit ihren gefüllten Lampen zurückgekehrt sind und da um den Einlass baten. Die Grobheit hätten sie sich wenigstens doch sicher erspart! Denn hätten sie da nichts mehr gesucht, so hätten sie auch dem sonderlich groben Bräutigam keine Gelegenheit geben können, ihnen die Türe vor der Nase zu verriegeln und ihnen dann allergröbst zu kommen. Denn wo nichts zu gewinnen ist, da ist auch nichts zu profitieren. Und so meine ich wenigstens für meinen Teil, dass wir der Stimme Gottes erst dann ein volles Gehör schenken sollen, wenn wir von Ihrem vollsten Wohlwollen gegen uns ganz überzeugt sind, sonst aber bleiben wir, wie wir sind, und soll es uns noch so schlecht gehen. Denn ich traue der allmächtigen Gottheit nicht. Was meinen Sie nach reiflicher Überlegung dieses meines Einwurfes?“

[1.136.16] Spricht der Franziskaner: „Es ist alles recht, Herr Graf! Sie fassen die Sache möglichst behutsam auf! Aber ich sage, man muss die Schrift Gottes ja eben nicht so buchstäblich nehmen, da doch die ganze Schrift nur ein bildliches Darstellen der höheren Moral, wie sie ein vollkommener Mensch haben soll, ist. Unter dem Lampenöl wird hauptsächlich nur die wahre Liebe zu Gott verstanden, wie unter dem Licht der Lampe die aus der Liebe entspringende Weisheit. Die törichten Jungfrauen aber hatten keine Liebe und wollten die Liebe auch den andern nehmen. Diese aber waren klüger und ließen sich nicht verführen. Sie beschieden die Liebelosen dafür hinaus in die Welt, dass sie sich da das Liebeöl holen sollten. Und diese gingen und holten sich ihre Lampen, oder besser ihre Herzen, voll. Als sie mit der Weltliebe in des Bräutigams Haus abberufen wurden, in dem wir uns nun schon seit einer geraumen Zeit befinden, wie ich mir’s nicht ohne Grund nun vorstelle – oder noch besser: als sie hier ohne wahre Liebe zu Gott ankamen und Einlass ins Himmelreich verlangten, so kann zu ihnen die Gottheit auch kaum etwas anderes gesagt haben als: ‚Ich kenne euch nicht mit dieser eurer Liebe, die Ich nie als die Meine anerkannt oder, noch besser, bestimmt habe! Geht also dahin, wovon eure Liebe ist!‘ – Sehen Sie, lieber Herr Graf, so verstehe ich diesen und noch manch andere Texte! Und so verhält sich’s auch. Und so meine ich denn auch, dass der Herr Graf der Gottheit gar zu viel Härte ansinnen. Setzen wir uns alle darüber hinaus und ergreifen denn doch die angebotene Hilfe! Wahrlich, uns kann es nicht so arg ergehen – das sagt mir mein Herz.“

[1.136.17] Spricht ein Nebenstehender aus der Gesellschaft: „Das glaube ich halt a! Das Evangeli ist durjaus metapherisch und muss guit verstonde werde. Weil als ist metapherisch?“ – Spricht der Graf: „Ich bitte Sie, bemeistern Sie sich gütig Ihres Mundes, sonst wird’s uns allen übel! War denn unsere Hinrichtung auf der Erde etwa auch metaphorisch oder etwa gar bloß nur provisorisch? Oder ist Jesus etwa auch metaphorisch ans Kreuz genagelt worden?“ – Spricht der Zurechtgewiesene: „O na, dos wo nit metapherisch, dos wor wirkli, sonst waren wir nit erlöst.“ – Spricht der Graf: „Schöne Erlösung das, wie Sie sich’s wenigstens vorstellen. Mir hat bis jetzt wenigstens nichts davon geträumt! Besonders diese echt ägyptische Finsternis und unser ganz vollkommen leerer Magen sind die sprechendsten Beweise für die Eventualität der Erlösung an mir selbst, wahrlich, diese Erlösung macht sich. Auf der Erde, Tod am Galgen, und hier, wie es scheint, die ewige Finsternis – das sind so recht handgreifliche Beweise vom Effekt der großen Erlösung an uns! Gefallen sie euch, meine lieben Freunde?“

[1.136.18] Spricht ein anderer: „Bis jetzt hat es mit der Erlösung noch ganz verflucht schlecht ausgesehen. Aber ich muss es auch andererseits bekennen, dass wir eigentlich wohl noch nie etwas getan haben, was uns der Erlösung hätte teilhaftig machen können. Wenn zuletzt der Galgen nicht eine gute Portion von unseren massenhaften Todsünden von uns hinweggestreift hat, so sieht es, so hier wirklich nach den sogenannten zehn Geboten vorgegangen wird, hier mit der Erlösung schon ganz verdammt schlecht aus. Denn von irgendeiner christlichen Tugendheldenschaft war bei uns allen schwerlich je eine Rede. Ich wäre daher sehr für die sogleiche Annahme des Hilfsantrags, sonst kann es uns noch sehr übel ergehen. Denn wir haben gar nichts, worauf wir uns rechtens stützen könnten, als höchstens unsere unbegrenzte Dummheit und im besten Fall – auf die alleinige Gnade und Erbarmung Jesu Christi!“

[1.136.19] Spricht der Franziskaner: „Bene dixisti [wohlgesprochen]! Das ist dir gelungen! Gerade aus meiner Seele gesprochen! So ist es! Gottes Jesu Christi Gnade und Erbarmung – oder wir sind alle des Teufels. Denn wir waren es ja auf der Erde, besonders in der letzten Zeit, die ihre gehörige Portion armer Teufel in diese Welt herüberbefördert haben und haben der Kinder im Mutterleib nicht geschont und hatten ganz verdammt wenig Mitleid mit dem tausendfachen Elend unserer Mitmenschen. Wir trieben sie wie Kälber vor uns her und stießen sie auf das Schlachtfeld. Und den slawischen Feinden ging es ganz verzweifelt schlecht, so sie in unsere Gefangenschaft gerieten. Kurz und gut, so uns jetzt noch Rache belebt gegen die, die ihre Hände an uns gelegt haben, welches Maß von Rache haben wir von Tausenden und abermals Tausenden zu erwarten, die durch unsere Hände gefallen sind und ebenso gut, und manche vielleicht tausendmal mehr Menschen waren denn wir?

[1.136.20] Ich meine daher: Vergeben wir von ganzem Herzen allen denen, die uns moralisch und physisch misshandelt haben, und endlich gekreuzigt obendrauf. Denn auch wir wussten, das Kreuz Tausenden ganz gehörig an ihr Leben zu schlagen. Was meinen Sie, Herr Graf, habe ich recht oder nicht?“

[1.136.21] Spricht der Graf: „Leider, dass Sie recht haben müssen! Aber eben das macht mich stutzig und fürchten, dass es uns am Ende nicht so ergehen wird, als den fünf törichten Jungfrauen. Wie wir anklopfen, so werden wir auch die sententiam quam miserabilem [den allerübelsten Urteilsspruch] vernehmen, und dann gute Nacht auf ewig! Was meinen denn Sie zu dieser meiner Meinung?“

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