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90. Weiterentwicklung des Sinnbildes der Weltgräuel.

[1.90.1] Die Helena betrachtet nun das vor ihr stehende Gefäß und ersieht gar bald, wie aus dessen Mitte ein Thron emportaucht, auf welchem ein Herrscher in Gold und Purpur gekleidet sitzt. Als sie dieser Erscheinung ansichtig wird, da erschrickt sie förmlich und spricht dann etwas ängstlich und befangen: „O Herr! Du liebevollster Heiland aller Menschen! Da, da sieh einmal her! Auf einem Thron sitzt dir ein Herrscherchen mit einer so entsetzlich hochmütigen Miene, dass man bei seinem Anblick schon ein förmliches Fieber bekommen muss! Ah, ah, das ist aber ja doch entsetzlich, was das doch für eine allerhochmütigste Physiognomie ist!

[1.90.2] Nun tauchen aus dem Gefäß eine Menge feingekleideter menschlicher Wesen auf und verneigen sich bis auf den Boden vor dem Herrscherchen; und dieses misst sie übermächtig stolz mit seinen echten Basiliskenaugen, dass sie alle beben vor seinem Angesicht. Und siehe, die nun am meisten beben und sich am meisten bücken, werden nun von dem Herrscherchen näher an den Thron berufen und werden mit Orden beteilt; denjenigen aber, die weniger beben und sich nicht so gar tief bücken, wird ins Angesicht gespuckt und darauf bedeutet, sich alsogleich vom Thron zu entfernen! Diese ziehen sich nun ganz demütigst zurück und werden bei ihrem Rückzug noch obendrauf von den mit Orden Beteilten mit aller Verachtung begleitet! Aber nun gibt das Herrscherchen auch den mit Orden Beteilten einen Wink, sich zu entfernen vom Thron, und siehe, als sie sich unter tausend Verneigungen entfernen und dem Herrscherchen den Rücken zuwenden, da flucht er ihnen nach und bespuckt ihren Gang! Nein, ist aber das doch ein unendlich hochmütiger Kerl von einem Fliegenkönig!

[1.90.3] Aber was sehe ich, der Raum um des Königs Thron wird nun immer größer und weiter. Und ich sehe eine große Menge Miniaturmenschen, die sehr armselig aussehen; und zugleich aber bemerke ich auch alle die früheren Bücklingshelden unter ihnen, aber nun mit ganz andern, herrschend aussehenden Gesichtern, als wie sie ehedem vor dem König zu ersehen waren. Und die Armen müssen sich vor ihnen ganz entsetzlich beugen; und einige müssen sich ganz geduldig auf den Boden hinlegen, auf dass die Bücklingshelden desto bequemer auf deren Köpfen herumsteigen können! Und einige, die dabei weh geschrien haben, werden sogleich von Häschern gebunden und in ein Loch, das sehr finster ist, hineingeschoben! Und, oh, oh, siehe, siehe, einige werden darum sogar aufgehängt! Ah, ah, no, das geht ja gar nicht übel!

[1.90.4] Da bemerke ich aber nun auch soeben ein Häuflein Menschen, die nahe ganz zertreten sind und aus gar vielen Wunden bluten. Diese bewegen sich unter großem Beben zum Thron hin und wollen um Einsichtnahme ihrer Gesuche den König bitten und um Abhilfe von solchen Bedrückungen; es wird dem König gemeldet, und dieser spricht zu seinen Dienern: Bei eurem Leben, dass mir keine solche gemeinste Kanaille vor den Thron kommt! Und die Diener sagen zu den Hilfesuchenden: Der König sei nun übel gelaunt, darum da niemand vorgelassen werden kann. So euch aber was fehle, da sollt ihr zu seinen Beamten gehen und ihnen euer Anliegen kundtun, und diese werden es dann schon wissen, was da zu tun sein wird, und werden danach ihr Amt handeln!? Da sprechen die Hilfesuchenden: Aber über diese wollen wir ja eben beim König Klage führen! Denn sie sind es ja, die uns gar so schmählich zertreten! Da spricht ein Königsdiener: Sooooo! Ah, ist es um diese Zeit! Ja das ist freilich ganz was anderes. No wir werden das schon machen! Geht jetzt nur ganz ruhig nach Hause und lasst das Weitere uns über; wie gesagt, wir werden die Sache schon machen! Aber eure Namen und euren Aufenthaltsort müsst ihr mir ganz getreu angeben, sonst wüssten wir ja nicht, wem und wo wir helfen sollen!? Die Armen geben dem Diener Schriften, und dieser empfängt sie wie mit einem rechten Wohlwollen. Als aber die Armen sich nun wieder entfernen in der besten Meinung, dass ihnen geholfen werde, wird sogleich ein Eilbote an die Beamten abgesendet mit der Weisung, benannte Untertanen, die noch Kraft genug besäßen, um zum Thron klagen zu gehen, noch mehr zu zertreten, damit sie in der Zukunft vor gerecht großer Schwäche sich nicht so leicht wieder erheben möchten, um irgend was immer für Klagen vor des Königs Thron zu bringen, dem auf der ganzen Welt nichts verhasster ist als das gemeine Bestienvolk! Und siehe, es wird daheim nun getreulich befolgt, was des Königs erster Diener befahl! Ah, ah, das ist aber doch zu schmählich, zu elend und niederträchtig! Der Diener berichtet nun solches dem König, und dieser belobt ihn sehr und erteilt ihm einen Orden!

[1.90.5] O Herr! So können doch wahre Könige nicht sein, sondern das müssen Usurpatoren sein, deren Herz und Gehirn der Satan ganz in den Beschlag genommen hat?“

[1.90.6] Rede Ich: „Ja, ja, du hast recht; das sind Usurpatoren, anfangs Volksbeglücker, aber gleich darauf echte Teufel! Schaue nur noch weiter; die Sache ist noch nicht aus. Wenn du alles wirst gesehen haben, dann erst werde Ich dir den rechten Sinn kundtun!“

[1.90.7] Spricht weiter Helena: „Ah, ah, was zeigt sich denn da schon wieder Neues?! Sieh, sieh, o Herr! Ich ersehe nun eine Menge der sonderbarsten Wölfe! Äußerlich sehen sie aus, als wären sie Menschen mit langen schwarzen Kleidern; aber sie sind es keineswegs, denn innerhalb der Kleider steckt, statt eines Menschen, ein reißender Wolf, der, obschon er ohnehin schwarz bekleidet ist und übers Gesicht eine Menschenlarve trägt, noch zum größten Überfluss zur Bergung seiner bestialischen Natur in einem Schafspelz steckt! Wie zart und sanft diese anscheinenden Menschen umgehen mit allen anderen Menschen, mögen sie hoch oder nieder sein! Aber hinterher ziehen sie die Menschenangesichtslarve von ihrem Wolfsrachen und fletschen ganz entsetzlich mit ihrem mörderischen Gebiss nach den Nacken der vor ihnen her wandelnden Menschen! Ah, ah, das sind ja doch ganz entsetzlich fürchterliche Wesen! Und da sieh, da sieh! Hinter dem Thron des Königs und auch vor dem Thron desselben stehen dicht aneinandergereiht solche Wesen! Die vorderen tragen auf purpurnen Polstern die schönsten Kronen und Zepter und machen die tiefsten Verbeugungen vor dem Thron. Und der blinde König (d. h. geistig blind) betrachtet das mit wohlgefälligen Augen und hat eine große Freude an diesen Thronumlagerern, unter denen ihm einige auch ganz neuerfundene Kriegswaffen präsentierten, die der König mit großen Freuden annimmt.

[1.90.8] Aber hinter dem Thron fletschen dieselben Wesen gräulich mit ihren Zähnen. Und an der Stelle der Kronen und Zepter und Waffen tragen sie auf ihren Händen schwere Fesseln und Ketten und Geiseln aus glühenden Schlangen! O König, o König, stehe auf vom Thron, diesem Sitz des Neides und des Hasses, und besehe deine verkappten Freunde, die dir frech mit Wort und Tat ins Angesicht lügen, hinter deinem Rücken aber deine ärgsten Feinde sind!

[1.90.9] O Herr, o Herr! Warum hat denn Deine unendliche Güte und Weisheit auch solche arge Wesen werden lassen?! Wäre es denn nicht besser, so es außer Dir gar kein Wesen gäbe, als dass es unter den vielen guten Wesen, die aus Dir sind, auch solche gibt, die doch unmöglich aus Dir sein können, wie sie sind!?“

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