[1.58.1] Auf diese Rede des Jellinek begibt sich Blum sogleich in den schon bekannten hinteren Teil dieses Zimmers, wo sich die vierundzwanzig Tänzerinnen nun hinter einem reichen Vorhang befinden – welcher Vorhang erst nach der Bekleidung dieser Tänzerinnen auf ihr bittendes Verlangen hergestellt worden ist, und zwar auf die wohlfeilste Art von der Welt, nämlich bloß durch Meinen Willen. Als er da anlangt, zieht er den Vorhang auseinander und spricht zu den hier ganz ruhig versammelten Tänzerinnen: „Nun, meine Lieben, ist es an der Zeit! Tretet sonach hervor und macht vor jenen drei Gästen einige recht artige Bewegungen! Aber macht eure Sache gut und macht diesem Hause auf keine Weise irgendeine Schande!“
[1.58.2] Die Tänzerinnen tun sogleich, was Blum von ihnen nun verlangt. Sie treten hervor, und bevor sie noch einen sogenannten Pas [Tanzschritt] machen, spricht die erste zum Blum: „Nur das bitten wir dich, dass du es uns nicht zu irgendeinem Fehler anrechnest, so wir durch unsere hier merkwürdig äußerst üppige Gestalt etwa gefährlich würden?! Denn dafür könnten wir wahrlich nicht! Kannst du aber so was im Voraus vermuten, da wäre es uns allen wohl lieber, du ließest uns nicht vor jene deine drei neuen Gäste treten! Denn es wäre uns allen wahrlich sehr leid, so wir Böses anrichteten, da wir nur ganz vollernstlich Gutes wirken möchten!“
[1.58.3] Spricht Robert: „Meine lieben Schwestern, gar sehr erfreut diese eure Äußerung mein Herz! Denn ich entnehme daraus klar, dass ihr alle vollkommen eines guten und reinen Sinnes seid! Aber es sei euch allen darum nicht im Geringsten bange! Denn dafür wird schon mein liebster Freund dort und ich auch die beste Sorge tragen, dass ihr jenen Gästen, und die Gäste euch nicht, den allergeringsten Schaden zufügen werden! Tretet sonach nur mutig und unerschrocken auf; denn nichts Böses oder doch wenigstens Gefährliches, sondern nur Gutes und Ersprießliches sollt ihr durch euren Tanz an jenen drei Gästen bewirken!“
[1.58.4] Als die Tänzerinnen solche Versicherung vernehmen, da treten sie dann ganz rasch in den sehr hellen Vordergrund des Zimmers und beginnen sogleich mit den freundlichsten Mienen ihre Künste durch allerlei artige Bewegungen zu entfalten. Blum, der sich nun schon wieder bei den drei Freunden befindet, fragt sogleich den Jellinek: „Nun, Bruder Jellinek, wie gefallen dir diese unsere Haustänzerinnen? Hast du auf der Erde je etwas Vollendeteres in diesem Genre gesehen?!“
[1.58.5] Jellinek betrachtet die Tänzerinnen eine Weile mit großer Aufmerksamkeit und spricht danach wie mit einem tiefen Seufzer: „Ach, lieber Bruder, ich kann mir nicht helfen, aber mein Gefühl beim Anblick solcher Produktionen bleibt sich stets gleich! Ich muss es dir ganz offenherzig sagen, dass ich daran nie ein wahres Vergnügen gehabt habe; im Gegenteil bin ich dabei stets nur mit einer gewissen Art von einer ganz sonderbaren Wehmut erfüllt worden und verließ ganz sonderbar [gestimmt] das Komödienhaus! Ich dachte auf der Erde gar oft über diese seltsame Erscheinung oder vielmehr über den sonderbaren Vorgang in meinem Gemüt nach, aber ich war stets unfähig, mir darüber eine gegründete Rechenschaft zu geben. Nun aber fange ich darüber so ein recht tüchtiges Lichtlein zu bekommen an, und das freut mich mehr als all diese wirklich allerausgezeichnetste Tanzkunstproduktion. Der Grund liegt in der totalen Zwecklosigkeit dieser künstlerischen Gliederverrenkungsproduktion. Sage mir, welchen Nutzen kann diese Kunst wohl je bezwecken?! Siehe, nach meinem Dafürhalten nicht den allergeringsten fürs Allgemeine! Alle anderen Künste, als da ist die Tonkunst, die Dichtkunst und die Maler- und Bildhauerkunst können in ihrer wahren und würdigen Haltung dem menschlichen Gemüt wohl von einem sehr wesentlichen Nutzen sein, indem sie das Herz sänftigen und veredeln und so nicht selten aus einem ganz rauen Menschen einen sanften und gemütlichen ziehen und nicht selten eine rechte Liebe in der Brust erwecken und beleben. Nun aber lassen wir diese Tanzkunst eine noch so reine und würdige Haltung nehmen, so werden durch sie stets nur die unlautersten Gefühle in der Seele wach, und die Natur fast eines jeden Mannes wird nach einer solchen Produktion stets ums Vielfache sinnlicher und begehrender. Wer von den Zuschauern ein Reicher ist, der sieht darauf Tausende nicht an, um das zu erreichen, danach er schon während der Produktion so sehnlichst getrachtet hatte! Der ärmere Teufel aber, dessen Kasse zu beschränkt ist, als dass er sich nach einer solchen, im höchsten Grad alle Sinne aufreizenden Produktion auch noch die bewusste Quintessenz des sinnlichen Genusses verschaffen könnte, zieht dann allzeit wehmütig nach Hause wenn es gut geht – und spielt einen Philosophen; geht es aber ein bisschen schlechter, da sucht er sich die nächste und beste feile Dirne auf und treibt dann gegen einige Groschen Genusstaxe das mit ihr, was er, so es möglich wäre, freilich um eine Million lieber mit der Tanzprimadonna treiben möchte!
[1.58.6] Ich meine, liebster Bruder, dass dieser von mir nun ganz offenherzig angeführte Grund meines Missbehagens beim Anblick solcher Produktionen allerdings beachtenswert zu nehmen ist, obschon er nicht so ganz eigentlich die Quelle meiner Wehmut war, die, wie schon gesagt, stets meine Gefährtin nach solchen Produktionen war, die ich zwar allzeit sehr eifrig besuchte, aber allzeit den gleichen Lohn davontrug. Die eigentliche Quelle meiner ominösen Wehmut bei und hauptsächlich nach solchen Produktionen war, wie ich’s nun recht deutlich wahrnehme, der gute Gedanke, durch den ich so eine wohlgestaltete Tänzerin wie durch ein magisches Theaterperspektiv [Augenglas] als einen gefallenen Engel ansah!
[1.58.7] O wie oft dachte ich da nicht so, und sprach bei mir selbst: Was könntest du meinem Herzen sein, wenn dein Herz je begreifen könnte, was dir mein Herz sein möchte! Aber du bist ein gefallener Engel und erkennst nimmer den Wert eines Herzens, das dich gar so gerne aus dem eitlen Schlamm deiner Gesunkenheit wieder zu einem wirklichen Engel erheben möchte. Der Welt Mammon ist nun dein Gott. Und dein eigen Herz trittst du Blinde mit den Füßen, mit denen du, die du einen Sonnentempel bewohnen könntest, so du den Wert deines Herzens erkenntest – die frechste Unzucht der Gäuler stachelst und manchen armen, seiner Natur bewussten Zuschauer für die etlichen Gulden, die er dir opferte, mit ein paar Dutzend schlaflosen Nächten strafst, ja manchen mit noch etwas viel Ärgerem! Aber, was kümmern dich tausend arme Teufel, die dich bezahlt, bewundert, beklatscht und oft an deinem Wagen sogar Tierdienste verrichtet haben! Dein Herz ist stumm gegen sie wie eine Marmorbüste! Du kennst sie nicht und willst sie auch nicht kennenlernen! Denn du hast ja Tausende eingenommen und hast dir dazu noch privatim die Säcke der reichen Wollüstlinge zinsbar gemacht! Was kümmern dich die Herzen, in die deine zauberischen Füße mit jedem Pas giftige Pfeile geschleudert haben, wenn sie gar schauerlich gewaltig etwa vor deinem Hotel par excellence dich noch einmal zu sehen verlangen!? Da wirfst du ihnen dann höchst eigenhändig einen Pantoffel auf ihre Köpfe, womit sie zufrieden sein können, und du kehrst darauf wieder in dein Prachtgemach zurück!
[1.58.8] Siehe, Freund Blum, solche Gedanken waren stets meine Begleiter und stimmten meine Seele ganz sonderbar schlecht. Hatte ich aber nicht recht, wenn ich so dachte, wie eigentlich ein besseres Herz seinem Mitmenschen gegenüber doch allzeit denken soll?! Weil ich aber aus gutem Grund bei solchen Gelegenheiten stets so dachte und nun ebenso denke – so frage dich nun selbst, ob mir nach deinem allfälligen Dafürhalten diese Tänzerinnen, die nun glücklicherweise ihre Produktionen beendet haben und uns nun zu behorchen scheinen, je gefährlich werden könnten? Vielleicht meinen beiden lieben Brüdern, dem Messenhauser und dem Becher? Was ich aber auch nicht behaupten möchte! Mir sind sie in dieser Situation wohl am wenigsten gefährlich, sowie auch diesem meinem nun wohl allerliebsten Freund, der diese meine Rede nun mit sichtlicher Rührung angehört hat. Also muss ich dir, liebster Freund Blum, die vollste Versicherung geben, dass all diese vierundzwanzig Künstlerinnen samt ihren achtundvierzig allerschönsten Füßen meiner Jesusliebe nicht den allerleisesten Eintrag gemacht haben! Im Gegenteil nur erhöht haben sie diese meine nun heiligste Liebe! Denn siehe, ich habe nun ein rechtes Mitleid mit diesen armen, gefallenen Engeln! Und so es mir möglich wäre, sie aus dieser ihrer Niedrigkeit zu wahren Menschen zu erheben, so gäbe ich mein halbes Leben darum! Aber lassen wir das! Es sind auf der Erde gar manche meiner Wünsche zu Wasser, ja am Ende sogar zu Blut geworden; warum soll das hier nicht auch der gleiche Fall sein können? Aber nun sagt auch ihr beide, Messenhauser und Becher, wie euch dieses Spektakel gefallen hat?“
[1.58.9] Sprechen die beiden: „No, no, so, so; – gar nicht übel! Aber etwas komisch kommt uns die Sache offenbar vor! Auf der Erde kommen einem solche Exzentritäten menschlicher Dummheiten ganz erträglich vor. Aber hier im Geisterreich muss ich dir offen gestehen, Bruder Blum, du wirst es uns nicht übelnehmen, kommen uns solche Aberrationen [Verirrungen] des menschlichen Strebens wohl ein bisschen gar zu sonderbar vor! Denke dir, so wir nun wieder zur Erde zurückkehren könnten, und dort unseren Freunden erzählen, dass wir soeben einem himmlischen Ballett beigewohnt hätten! No, das Gelächter möchte ich hören! Aber sage mir nun das Einzige, wie du so ganz eigentlich zu diesem tollen Gedanken gekommen bist, dir hier im Reich des Geistes ein förmliches Serail, gleich nur von so ein paar Dutzend der saubersten Balletttänzerinnen zu halten? Hast du sie denn förmlich in deinen Sold, oder was – genommen? Oder ist das etwa der Himmel der Neukatholiken? Geh, fahr ab mit diesen deinen neukatholischen Engelchen und bringe uns dafür lieber noch so ein Bouteillerl [Weinflasche] von dem letzten! Von dem ist ein Tropfen mehr wert als alle die achtundvierzig schönen Füßlein!“ Blum lächelt dazu und holt die zweite Bouteille.
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