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114. Vom formwechselnden Wesen Satans. Über den Charakter Martins. Großer Tateifer ist oft besser als zu viel Weisheit. Chanchah ahnt die Nähe des Herrn. Ihr demütiges Schuldbekenntnis

[114.1] Spricht die Chanchah ganz betroffen: „Ach du meine Liebe – werden alle diese Gäste den gar zu grässlichen Anblick jenes Ungeheuers aller Ungeheuer wohl ertragen? Und wird es uns wohl nichts Arges antun können? O Lama, Lama, das wird ein grässlichster Spektakel werden! O siehe, siehe, wie es sich schon gar entsetzlich zu winden und zu bäumen beginnt! Ach Lama, welch ein grauenhaftester Anblick! Welche Wut, welch ein furchtbarster Grimm sprüht aus seinen grässlichen Feueraugen! O du Freund, wenn dies Ungeheuer erst hier sein wird vor uns, wer wohl wird es wagen anzusehen?“

[114.2] Rede Ich: „Sei nur ruhig; dieser Gast kann alle Gestalten annehmen, wie er sie gerade zu seinem vermeintlichen Vorteil zu brauchen wähnt. Aber wir werden ihm hier das Raue schon herunterarbeiten, wenigstens auf eine Weile! Daher fürchte dich nicht, es wird schon alles gut gehen.“

[114.3] Spricht die Chanchah: „O du liebster Freund, o du meine Liebe, auf dich habe ich wohl – wie auf den Lama – mein größtes Vertrauen; aber auf den Bruder Martin halte ich denn noch keine gar zu großen Stücke. Denn siehe, er tut so vorlaut, und wenn es dann irgend an einen Ernst kommt, da zieht er sich aber dennoch alsbald so zurück, als wäre er dem noch bei weitem nicht gewachsen, was er ausführen solle oder wollte. Daher meine ich, er wird beim Hierherführen jenes schaurigsten Ungeheuers leicht wohl mehr Ungünstiges als Günstiges bewirken? Der Borem wohl, er ist ein Mann voll Weisheit und voll gerechter Kraft, auf den kann man schon bauen; aber der Martin ist und bleibt ein Pehux [Schussel], der sich viel zutraut, aber dann nichts vermag, so es irgend auf einen Ernst ankommt!“

[114.4] Rede Ich: „Mein Liebchen, du hast da freilich nicht ganz unrecht; aber er füllt nun dennoch seinen nunmaligen Platz vollkommen aus. Denn siehe, in der großen Ordnung Lamas sind auch solche Wesen nötig, die ohne viel nachzudenken sich gleich über eine Sache hermachen, ob sie derselben gewachsen oder nicht gewachsen sind. Das bewirkt, dass dann auch andere angeeifert werden, auch etwas zu tun, und oft viel klüger als derjenige, der ohne viel Überlegung den Anfang machte. Denn die gar zu Weisen sind nicht selten zu mückenfängerisch, und getrauen sich oft aus lauter Tiefsinn eine Sache nicht anzugreifen, solange nicht alle ihre Weisheitsgründe für eine und dieselbe Sache ganz auf ein Haar passen. Und so müssen auch Martins sein, die weniger Weisheit, aber dennoch einen großen Tateifer in sich tragen, der oft besser ist als zu viel Weisheit. Daher sei du wegen Martin nur ganz ruhig; er wird seine Sache schon recht machen, so er sie nach Meinem Auftrag angreift und vollzieht.“

[114.5] Spricht die Chanchah: „Ach ja, das sicher! Dass du hier der Weiseste bist, das ist nun nur zu einleuchtend meinem Herzen. Aber dass ich noch immer nicht weiß, wer du so ganz eigentlich bist, das Einzige ist mir nicht recht an dir! Sieh, du sagtest jüngst zu mir, als ich dich bloß nur nach dem Namen fragte, dass meine Liebe zu dir mir schon alles verraten werde. Aber wie unbegreiflich mächtig ich dich auch liebe, so kann ich’s aber doch von nirgendswoher erfahren und noch weniger aus mir selbst, wie du heißt und wer du so ganz eigentlich bist. O du mein über alles geliebtester Freund, o sage mir doch deinen Namen!“

[114.6] Rede Ich: „O du liebste, holdeste Chanchah! Siehe, an dem alleinigen Namen liegt vorderhand ja ohnehin nichts, so du das noch nicht erkennen kannst, was alles an den Namen gebunden ist. Wann du aber auf alles, was Ich rede, recht gemerkt hättest, da wärst du mit Mir schon so ziemlich im Reinen. Gebe aber nur von jetzt an auf alles recht Acht, was Ich reden werde, und wie; und wie die anderen zu Mir und mit Mir reden werden, und was auf Mein Wort, wenn Ich etwas gebiete, sich alles gestalten wird, dann werden wir beide uns gar leicht und bald ehestens näher erkennen. Aber nun sei standhaft und unerschrocken; denn siehe, Martin und Borem haben von Mir schon den Wink erhalten, das Ungeheuer hierher zu führen. Siehe, sie lösen dem Tobenden bereits die Ketten!“

[114.7] Die Chanchah wird nun ganz stumm. Aber die Gella tritt mutig zu ihr und spricht: „Chanchah, wenn dir die endlose Kraft und Macht dieses Freundes wie mir bekannt wäre, da würdest du dich an Seiner Seite wohl vor tausend solchen Ungeheuern weniger fürchten denn vor der kleinsten Mücke!“

[114.8] Chanchah erschrickt förmlich und spricht hastigst: „Schwester, Schwester! Was sprichst du!? Ach, rede, rede fort, rede von ihm, von ihm, den ich so endlos liebe! Kennst du ihn?! Kennst du diesen Herrlichsten?! O so rede, rede schnell! Soll etwa meine große geheime Ahnung an ihm sich erwahren?! O Lama, dann ist Chanchah entweder das glücklichste Wesen der Himmel Lamas oder aber auch das unglücklichste der Unendlichkeit!

[114.9] Denn siehe, ich bin eine gar große Sünderin vor Lama, da ich in meinem Land einmal einen Verrat an seinen vorgeblichen Boten verübt habe, die dann alle übel um ihr Leben gekommen sind. Waren sie wirklich Lamas Boten, dann wehe mir, so meine große Ahnung sich hier erwahrt! Denn von dem auf ewig verstoßen zu sein, den man so unendlich liebt – o Schwester, kennst du noch eine größere Qual? Nur dann, so jene von mir Verratenen Frevler, Betrüger und somit keine Boten Lamas waren – was ich freilich nicht entscheiden kann –, dann freilich würde mir des Allergerechtesten Antlitz sicher erträglicher sein! Daher rede, rede; doch, ach Schwester, rede nicht – denn zu unerträglich könnte mein Herz deine zu frühe Enthüllung durchbohren! Oh, lass mich noch eine Weile in der süßen Ungewissheit schwelgen!“

[114.10] Mit diesen Worten sinkt sie zu Meinen Füßen wie ohnmächtig; Ich aber stärke sie und richte sie vollends wieder auf.

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