[105.1] Spricht Bischof Martin: „O meine allergeliebteste Chanchah, ich meine, da wirst du ganz recht haben. Nur muss ich dir hier ganz offen bekennen, dass wir Bürger der Himmel eigentlich gar keine Gesetze haben, sondern leben vollends gesetzlos ein allerfreiestes Leben in Gott, unserem Herrn, dahin! In Gott, dem Herrn, dahinleben aber heißt – in aller Liebe leben ewig. Die Liebe aber macht alles frei und kennt außer sich selbst kein Gesetz. Daher haben wir hier auch kein Gesetz als allein das der Liebe, welches Gesetz aber kein Gesetz ist, sondern nur die ewige vollkommenste Freiheit aller Wesen. Verstehst du das?“
[105.2] Spricht die Chanchah: „Ja, ich verstehe es und bin nun ganz überfroh, dass ich solche deine gute Lehre verstehe. Wenn die Liebe – auch wo sie ganz geheim gehalten werden muss – ein liebend Herz schon so über alle Maßen glücklich macht, wie glücklich müssen da erst jene sein, die unter dem alleinigen Szepter der Liebe stehen und kein anderes kennen. Ja, ja, die Liebe, die Liebe – wo die Gesetz ist, da freilich wohl müssen alle Menschen, die unter solch einem Gesetz stehen, in aller Seligkeiten höchster sich befinden!
[105.3] Was nützt einem Menschen aller Glanz der Sonne, so ihm ihre Wärme fehlt? Wozu alles Gold und Edelsteine, wenn in ihren Besitzern kalte, steinerne Herzen eisknisternd pulsen? O Freund, du hast mir nun etwas Heiliges gesagt, und ich beginne nun schon zu merken, was dein mir über alles teurer Freund damit hat andeuten wollen, da Er zu mir sagte: ‚Deine Liebe zu Mir wird dir alles verraten!‘ Ja, ja, diese Liebe hat mir nun schon viel verraten und siehe, mein Herz sagt es mir, diese Liebe wird mir noch viel mehr verraten!
[105.4] Ich liebe euch aber auch mit aller Glut der Mittagssonne, und ganz besonders jenen, der mir noch seinen Namen schuldig ist; darum du mir aber schon vergeben musst, dass ich jenen, deinen Freund und Bruder, viel lieber habe als dich. Ich weiß zwar nicht warum, da er im Grunde nicht schöner ist, denn du und dein Bruder Borem, und hat nicht einmal ein schöneres Kleid. Aber es liegt in seinem großen blauen Auge so etwas unbeschreiblich Anziehendes, und sein Mund hat so einen sonderbar götterartigen Zug und Ausdruck, dass man gerade in die größte Versuchung geführt wird, seine so endlos liebvollste Gestalt für das getreueste Ebenbild Lamas zu halten!
[105.5] Ja, ich sage es dir, wenn ich so mein Herz frage in aller seiner Liebesglut zu diesem einen, so sagt es mir: ‚O Chanchah, für mich ist das der große, heilige Lama! Wer sonst wohl könnte so himmlisch, himmlisch, himmlisch reden, wer sonst mit einem Wort einen Feigenbaum mit vollreifen Früchten erschaffen und ihn dann der Ihn über alles, alles, alles liebenden Chanchah zum lebendigsten Zeichen Seiner Liebe zu ihr, schenken? Wer sonst wohl auch könnte gar so liebe, so herrliche Augen und einen gar so überhimmlisch schönsten Mund haben – als allein mein allergeliebtester Herzens-Lama!?‘
[105.6] Weißt du, allerliebster Freund, so redet freilich nur mein Herz und nicht auch mein Verstand. Obschon mein Verstand wohl auch sehr gerne der schönsten Stimme des Herzens folgen möchte, so er sich nicht fürchten dürfte, eine Sünde zu begehen. Denn der Verstand ist da, wo das Herz den größten Anteil nimmt, eben kein zu strenger Richter und vergöttert gerne mit dem Herzen dasselbe, was des Herzens ist.
[105.7] So ist es auch bei mir nun; mein Herz vergöttert jenen Herrlichsten, und der Verstand für sich täte dasselbe nur zu gerne, wenn er der einzige Verstand wäre und hätte nicht noch eine Menge anderer Verstande um sich!
[105.8] Aber ich werde mir bald aus den anderen Verstanden nichts mehr daraus machen, sondern allein dem Verstand des Herzens folgen. Vielleicht werde ich da eher zu einem rechten Ziel gelangen, denn so? Wenn es hier ohnehin kein anderes Gesetz als das der Liebe nur gibt, da werde ich mit dem trockenen Verstand bald, verstehst du, im Reinen sein. Was sagst du, liebster Freund, zu dem allem?“
[105.9] Spricht Bischof Martin: „O du allerliebste Chanchah! Siehe, da lässt sich vorderhand sehr wenig darauf sagen; aber folge du nur deinem Herzen, da wirst du keinen zu krummen Weg einschlagen. Mit der Weile wird dann schon auch deinem Verstand ein rechtes Licht werden. Mehr kann ich dir nun wahrlich auf alle deine schönsten Worte nicht sagen!“
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