[104.1] Chanchah tritt nun vor den Bischof Martin hin, lächelt ihn gar liebfreundlich an, und spricht mit einer gar überaus liebfreundlichen und dabei wahrhaft jungfräulich zart bebenden Stimme ihn also an: „Liebster Freund! Siehe, du hast dich ehedem ganz stillschweigend von mir entfernt, als ich dir meine sicher sehr zu entschuldigende Mutmaßung über deine Wesenheit vorhielt, da du mir keine Antwort gabst auf meine Frage. Ich schließe daraus, dass dich solche meine Mutmaßung sicher sehr mächtig beleidigt hat? Ist das der Fall, so vergebe es mir, nachdem du mich zuvor nach deinem Wohlgefallen zur Genüge wirst gezüchtigt haben, und sei mir dann nur wieder gut, denn ich gebe dir die heiligste Versicherung, dass ich dich darauf um gar nichts fragen und dich noch weniger je mit einem Blick oder Wort beleidigen werde.
[104.2] Meines Landes Glaube und Sitten, für das ich nicht kann, aber sind ja von der Art, dass man die in ihrem Verstand etwas einfachen Menschen für Tiere hält. Ich habe hier eine solche Entdeckung an deinem Verstand zu machen geglaubt und hielt dich demnach auch für ein Tier. Ich aber habe mich nun dagegen überzeugt, dass du das bei weitem nicht bist, als für was ich dich törichtermaßen hielt.
[104.3] Ich bereute sogleich meinen Irrtum und wollte dir zu den Füßen fallen. Aber da ich sah, wie du mit diesem deinem Bruder sicher etwas Wichtiges zu reden hattest und ich dich nimmer stören wollte, so wartete ich, bis du dich selbst von diesem deinem Bruder würdest entfernen können. Da nun aber der von mir sehnlichst erwünschte Moment eingetroffen ist, so tue ich nun, was ich lange schon hätte tun sollen! Ich falle dir nun zu deinen himmlischen Füßen und bitte dich um eine gerechte Züchtigung und darauf um die Vergebung aller meiner Schuld zu dir und an dir, du herrlicher Großbürger aller Himmel!“ Mit diesen Worten fällt sie dem Martin zu den Füßen.
[104.4] Martin aber, ganz gerührt von solch einer alleranmutigsten Bittstellerin, spricht: „O du rein himmlische Chanchah, ich bitte dich, stehe auf, stehe nur gleich auf! Was fällt dir denn ein! Ich – dich – du Himmlische – züchtigen!? Ich, der ich dich vor lauter Liebe gerade aufessen oder ganz in mein Leben hinein verdrücken möchte! Glaubst denn du, ich sei etwa auch so ein unbarmherziger Chinese? Oh, davor behüte mich ewig der große, heilige, wahrhaftigste Lama! O, stehe nur schnell auf, denn so kann ich dich keine Minute lang sehen, du meine himmlische Chanchah!“
[104.5] Die Chanchah steht nun schnell wieder auf und spricht: „O du lieber Freund, in deinem Land müssen doch viel bessere Menschen sein als in dem großen Reich, in dem ich zur Erde geboren ward. Denn siehe, bei uns geht es mit dem Vergeben einer angetanen Beleidigung eben nicht so leicht, wie du es mir so übergut gezeigt hast.
[104.6] So man bei uns jemanden beleidigt hat, da heißt es dann, sich vor ihm aufs Angesicht niederwerfen und den Beleidigten dadurch um die Vergebung der Beleidigung anflehen, dass man ihn zuerst um eine gerechte Züchtigung, ja bei schweren Beleidigungen sogar um den Tod bittet, und darauf erst um die Nachlassung der Schuld. Denn sie sagen und glauben dort alle: Eine Beleidigung kann man nur wieder durch eine körperliche Gegenbeleidigung vollkommen gutmachen; und ist dadurch die Beleidigung ausgeglichen, sodann erst kann der Beleidiger seinen beleidigten Züchtiger bitten, ihm auch im Herzen zu vergeben.
[104.7] Siehe, so sieht es bei uns aus! Daher darf es dir aber auch nicht zu wunderlich vorkommen, so du an mir vielleicht noch so manches entdecken wirst, was da mit deines Landes Sitten nicht im Einklang stehen wird. Denn bei uns sind die Gesetze sehr alt und unendlich streng, und wehe dem, der es da wagen würde, diese uralten Gesetze auch nur im Geringsten mildernder auszulegen, indem das noch ganz unverändert dieselben Gesetze wären, die der Lama Selbst dem ersten Menschenpaar aus den Himmeln erteilt habe.
[104.8] Aber weißt du, liebster Freund, so bei euch hier diese Gesetze gar so sanft und liebevoll sind, da brauche ich mich, nachdem ich wahrscheinlich ewig nichts mehr werde mit den Gesetzen meines Landes zu tun haben, auch sicher nimmer danach zu richten; sondern ich werde mich nach euren Gesetzen richten und ich werde da sicher nie fehlen! Was meinst du in dieser Hinsicht?“
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