[98.1] Rede Ich: „O du Meine allerliebste Chanchah! Das kann Ich dir in aller Kürze sagen, und so höre! Siehe, da Ich den Lama so gut kenne, wie Er Sich Selbst kennt, so sage Ich dir: Was da das Hervorbringen und Schaffen betrifft, so ist das dem großen Lama wirklich etwas dir kaum begreiflich Leichtes. Denn Er braucht zu einer einmal gefassten Idee nur aus Seinem Willen zu sagen: ‚Es werde!‘, und es ist dann schon alles da, was Er will! Ungefähr also – gebe nun recht Acht! –, als so Ich nun in Mir denke, dass da hier vor uns ein schöner Baum stehe, mit den besten Früchten erfüllt! Oder stelle du dir so einen Baum vor, z. B. so einen sehr schönen Feigenbaum. Hast du ihn schon?“
[98.2] Spricht Chanchah: „Ja, ja, ich denke mir nun einen, wie da einer stand in dem Garten meiner Eltern!“
[98.3] Rede Ich: „Nun gut, gebe nun Acht! Ich denke Mir nun auch denselben Baum und sage gleich dem Lama nun zu diesem gedachten Baum: ‚Werde!‘ und sieh, der Feigenbaum steht nun schon vor uns samt ganz reifer, wohlgenießbarer Frucht!
[98.4] Siehe nun, wie leicht es Mir war, dir hier ein lebendiges Beispiel zu stellen, ebenso leicht ist es dem Lama, Eines wie Unendliche zu erschaffen. Aber nicht so leicht ist es dem Lama, die Menschen so zu gestalten, dass sie so frei und vollkommen würden, wie Er Selbst es ist. Dazu gehört schon etwas mehr als die bloße Allmacht; aber wenn das auch schwerer ist, so ist aber dennoch dem Lama alles möglich!
[98.5] Nun, Meine allerliebste Chanchah, verstehst du nun diese Meine Erklärung? Diesen Feigenbaum aber schenke Ich dir für immer; er wird dir ewig nimmer verdorren, sondern wird dir stets die reichlichsten und besten Früchte tragen!“
[98.6] Die Chanchah ist nun ganz verblüfft, und kann vor lauter Staunen kein Wort herausbringen, und betrachtet danebst bald Mich, bald wieder den Feigenbaum. Dies Wunder aber zieht auch sogleich alle Gäste herzu, so dass wir nicht not haben, zu ihnen uns zu bewegen; alle sind voll Staunens.
[98.7] Auch der Bischof Martin betrachtet ganz überrascht den Baum und spricht: „O Bruder, wohl weiß ich, dass es Dir ein Leichtes ist, einen solchen Baum hervorzubringen; aber dessen ungeachtet hat es mich doch nun ganz absonderlich überrascht, als Du ihn gar so plötzlich allhier entstehen ließest.
[98.8] Ja, ja, ich muss es gestehen, es ist wohl eine sonderbar schöne Sache um so ein bisschen Allmacht. Aber was kann unsereiner dafür, dass er sie nicht hat und auch nicht haben kann, weil er noch viel zu dumm dazu ist. Im Grunde ist es aber auch gut, dass ein dummer Geist – wie z. B. der meinige – keine Allmacht besitzt. Denn besäße ich so was, da wäre es aus bei mir! Du, herrlichster Bruder, würdest Dich Selbst verwundern über die seltenst dümmsten Gebilde, mit denen ich bald einen ungeheuren Weltenraum anfüllen würde! O Herr, da gäbe es Karikaturen, die ihresgleichen suchten!
[98.9] Daher ist es vollkommen recht, dass der weiseste Lama solche Allmachtsfähigkeiten nur jenen erteilt, die der himmlischen Weisheit vollkommen mächtig sind, wie es bei Dir in einem überaus hohen Grad der Fall ist! Dass bei Dir aber demnach das Geben offenbar leichter sein muss als das Nehmen, das wird etwa doch auch klarer sein als auf der Erde die hellste Mittagssonne? Denn mit dem Nehmen hätte es bei Dir – meinen Begriffen nach – ohnehin einen ganz absonderlichen Anstand, indem (ganz leise) ja ohnehin alles Dein ist!“
[98.10] Rede Ich: „Nicht so laut, Mein liebster Bruder Martin! Du kommst immer tiefer. Bedenke, dass da noch andere zugegen sind, die noch nicht auf deiner Stufe stehen! Anfangs hast du schon recht geredet; aber gegen das Ende wärst du bald zu weit gegangen, und das hätte dieser Gesellschaft auf eine geraume Weile schaden können! Daher nimm dich nur recht zusammen und sei klug wie eine Schlange, aber dabei sanft wie eine Taube! Nehme dir aber nur immer den Borem zum Muster, der ist hier ganz an seinem Platze und beobachtet genau die himmlische Klugheit. Tue du auch so, und wir werden mit diesen Gästen leicht vorwärtskommen!“
[98.11] Bischof Martin: „Oh, ich danke Dir für diesen guten Rat, ich werde ihn sicher genau befolgen! Aber da sehe nun die Chanchah an, wie sie Dich nun mit einer Aufmerksamkeit betrachtet, von der mir früher noch nicht Ähnliches vorgekommen ist!“
[98.12] Rede Ich: „Gut, gut ist das, lassen wir sie nur ihre Beobachtungen machen; sie führen ihren Geist näher zu Mir! Bald wird sie mit allen Fragen fertig sein, auf die wir ihr vollauf werden eine gute und geraume Weile zu antworten haben. Sieh, ihr Mund macht schon einige Bewegungen. Daher frage du als Hausherr zuerst, wie sie mit dieser Erklärung zufrieden ist; das andere wird sich dann schon von selbst machen!“
[98.13] Bischof Martin befolgt sogleich Meinen Rat und spricht zur Chanchah, die noch immer vor Verwunderung über Verwunderung ihren Mund nicht in die rechte Sprechverfassung bringen kann: „Holdeste Chanchah! So sage uns doch einmal, wie du mit dieser Erklärung zufrieden bist, und ob du sie wohl in allen Teilen so recht gut und klar verstanden hast! Du musst dich ob dieses Wunders hier nicht gar so sehr erstaunen, denn hier sind derlei Erscheinungen eben nichts Seltenes. Mit der Weile wirst du dich daran schon mehr und mehr gewöhnen.
[98.14] Siehe, es ist mir im Anfang doch auch um kein Haar besser gegangen. Wenn du wüsstest, was erst mir während meines Hierseins alles für Wunderdinge begegnet sind, ich sage dir, du würdest dich gerade umkehren vor lauter Staunen über Staunen.
[98.15] Weißt du, meine liebste Chanchah, das ist nur so ein kleines Hauswunderchen und dient dir bloß nur als eine beispielsweise Belehrung über deine früheren Fragen, die du an meinen Bruder gestellt hast. Habe aber nur Geduld, es wird schon mit der Weile noch endlos dicker werden!“
[98.16] Spricht die Chanchah: „Ach, du lieber Freund, du hast hier leicht reden, so du an derlei Erscheinungen schon gewöhnt bist. Aber unsereins kommt bei solch einem ersten Anblick einer solch außerordentlichen Erscheinung doch sicher außer aller Fassung – und muss es auch. Denn wo in der Welt hat man je so etwas gesehen?!
[98.17] Siehe, so du nun zu mir nicht gar so beschwichtigend geredet hättest und mir in gewisser Hinsicht eine andere Überzeugung beigebracht, so hätte ich diesen deinen Freund und Bruder, der sich nun mit meinen Landesbrüdern bespricht, so wahr ich lebe, für den Lama Selbst gehalten! Aber weil, wie du nun zu mir gesagt hast, derlei Wunder hier gerade nichts Seltenes sind, so bin ich nun wieder etwas beruhigter und liebe diesen deinen Bruder noch inniger wie zuvor.
[98.18] Denn obschon er alsonach nur dein Bruder ist, so sieht er aber dennoch viel göttlicher aus als du und hat solches auch durch diese Kleinschöpfung bewiesen. Ich halte wohl auch von dir sehr viel, aber ich zweifle sehr, ob du so eine Kleinschöpfung zuwege brächtest? Was meinst du darob?“
[98.19] Spricht Martin: „Ja, du meine allerliebste Chanchah, weißt du, wenn es gerade sein müsste, wer weiß es, vielleicht doch auch!? Aber so ich mich etwa mit so einem Wunderwerk bloß nur gewisserart produzieren wollte oder möchte, etwa eines Ruhmes wegen, da säße ich unfehlbar zwischen zwei Stühlen auf der Erde, wie man zu sagen pflegte bei mir auf Erden, und müßte mich dann schämen wie ein erwachsener Bettpisser, vorausgesetzt, dass du da weißt, was bei uns so ein Bettpisser ist?“
[98.20] Spricht Chanchah: „O rede du nur weiter, ich verstehe dich schon! Bei uns heißen derlei Naturschwächlinge ‚Lagerfeuchter‘ (Tschimbunksha), und müssen tags darauf das angefeuchtete Lager den ganzen Tag an einem öffentlichen Platz hüten, wobei sie sich auch gewöhnlich sehr stark schämen müssen. Du siehst nun, dass ich dich verstehe; darum rede du nur ungestört fort und sage mir alles, was du mir zu sagen hast!“
[98.21] Spricht Martin: „Hm, ja, hm, jaaaa! Was wollte ich denn so ganz eigentlich sagen? Hm, hm, hmmm! Ja, richtig, ja, so ist es, es war die Rede wegen Wirkung eines Wunders! Richtig, richtig, ich habe den Faden schon wieder! Weißt du, meine allerholdeste Chanchah, so ganz eigentlich kann nur der große Lama Wunder wirken, wann und wie und wo Er will. Wir, Seine Diener, aber nur durch Seine Zulassung, so es nötig ist. So hat auch dieser mein Bruder hier dies Wunderwerkchen gewirkt, weil es zu deiner Belehrung nötig war, ansonsten Er auch keines gewirkt hätte – was aber auch bei Lama Selbst der Fall ist. Auch Er wirkt vor unseren Augen fast nie ein Wunder, weil es da nicht nötig ist, wo wir ohnehin Seine leisesten Winke verstehen! Verstehst du, liebste Chanchah, mich?“
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