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97. Chanchah erforscht ihren geliebten Freund. Unterschied zwischen Gastgeber und Gast. Vom Geben und Nehmen

[97.1] Als die Chanchah das vernimmt, spricht sie ganz wie verlegen: „O du herrlichster Freund meines ganzen Wesens! Du musst den großen, heiligen, ewigen Lama sicher schon oft gesehen haben und vielleicht gar gesprochen auch, weil du mit einer solchen, mir ganz unbegreiflichen Bestimmtheit von Ihm reden kannst, als wärest du zunächst Sein erster Diener? Ja, ja, es wird schon so sein, sonst könntest du ja doch nicht gar so unaussprechlich lieb sein! Deine Worte hätten die Kraft nicht, die sie haben, als wären es Worte Lamas Selbst!

[97.2] Siehe, es haben ehedem auch diese deine beiden Freunde geredet, aber ich merkte wenig Kraft in ihren Worten. Nur wann sie mit dir redeten, da freilich hatten auch ihre Worte einige Kraft. Als der eine aber mit mir redete, da verspürte ich keine Kraft in seinen Worten. Daraus aber schließt mein Herz, dass du dem Lama näher bist denn diese beiden. Habe ich nicht recht geurteilt?“

[97.3] Rede Ich: „Ich sage dir, frage nur dein Herz, deine Liebe zu Mir; diese wird dir alles verraten! Nun aber gehen wir auch zu den anderen Brüdern, auch sie bedürfen unserer Sorge und Liebe. Du gehe Mir zur Seite, Meine liebste Chanchah!“

[97.4] Spricht die Chanchah: „Ach ja, ach ja, das ist wohl sehr recht und gut, dass da auch meiner anderen Brüder und Schwestern gedacht wird in euren Herzen; denn besser sind immer die Gastgeber als die Gäste daran. Die Gastgeber können geben, wenn sie wollen. Die Gäste aber dürfen erst dann etwas nehmen, so ihnen etwas gegeben wird. Und so sie das Gegebene nehmen, da müssen sie es fein artig nehmen und müssen dem Gastgeber recht viel Ehre antun und ihm die Dankbarkeit nie versagen.

[97.5] Der Gastgeber aber braucht zu niemand bitten kommen, so er aus seiner Vorratskammer für sich was nehmen will. Er kann sich nehmen wie viel er will, wann und was er will, und hat dabei nicht nötig, für sich alle erforderlichen Höflichkeitsregeln zu beachten, noch braucht er jemanden darum zu ehren und auch niemandem zu danken. Daher sind die Herren im Grunde doch allein nur glücklich zu preisen, darum sie geben können, was und wann sie wollen. Die Empfänger aber sind, wenn auch schon gerade nicht unglücklich, doch stets übler daran, darum sie nehmen müssen, was ihnen gegeben wird.

[97.6] Also gedenke ich auch hier dieser vielen Gäste, zu denen auch ich gehöre. Ihr drei freilich wohl über alles lieben und guten Gastgeber und Herren dieses Himmelshauses habt es trotz eurer allerunbegrenztesten Güte aber dennoch um sehr vieles besser denn alle diese von euch noch so gut gehaltenen Gäste. Denn Herren bleibt stets ihr, diese aber nur Gäste, die in allem von euch abhängen. Und so ist es nun wirklich sehr recht und gut, dass nun auch ihrer sicher überaus gut gedacht wird.

[97.7] Du, liebster Freund, aber wirst es mir doch nicht zu einem Fehler anrechnen, dass ich nun so geredet habe? Denn siehe, ich hätte gewiss nicht so frei heraus geredet, wenn ich dich nicht gar so unermesslich lieb hätte. Diese meine große Liebe zu dir, du mein himmlischer Freund, löst mir die Zunge; und wann sie gelöst ist, ach, dann geht sie schon, wie sie gewachsen ist!“

[97.8] Rede Ich: „O du zartestes Balsamtröpfchen meines Herzens, rede du nur immer zu, wie dir es dein Herzchen gibt. Uns kannst du nimmer beleidigen, besonders wann du so weise sprichst, wie du jetzt geredet hast. Denn ich sage dir’s, du Holdeste, es ist genau so, wie du nun geredet hast. Es ist wirklich viel leichter, zu geben als zu nehmen, und es ist der kümmerliche Geber auch immer im Grunde des Grundes besser daran als der beste Nehmer!

[97.9] Aber es lässt sich diese Ordnung nimmer ändern, da unmöglich jedermann ein Herr sein kann. Und würden vom Lama aus auch alle Menschen zu Herren gemacht sein, so dass da jeglicher hätte sein Haus und sein gutes Auskommen, und dürfte niemand dem anderen (zu bitten und zu nehmen) kommen, was wäre aber dann mit der Nächsten- und Bruderliebe, und was mit der Liebe zum Lama? Sieh, diese ginge da rein unter, und doch müsste am Ende der Lama ein Geber und alle Menschen aber gebundene Empfänger sein, wie sie es nun sind und ewig sein werden!

[97.10] Damit aber die Nehmer so ungeniert als nur möglich das Gegebene nehmen können und dürfen, so wird von uns Gastgebern hier stets in so überfließend reichlichster Fülle gegeben, dass da jeder Empfänger und Nehmer sich ganz ungeniert so viel von dem endlos viel Gebotenen nehmen kann und darf, als wie viel nur immer sein Herz zu begehren vermag.

[97.11] Ja, Ich sage dir es, du Meine allerliebste Chanchah, es wird hier mit dem Geben sogar so weit getrieben, dass es nahe in der ganzen Unendlichkeit kein Wesen gibt, dem nicht allzeit tausendfach mehr gegeben würde, als was seines Herzens glühendster Wunsch ewig je begehren könnte! Was meinst du nun, du Meine geliebteste Chanchah, sind die Nehmer bei solchen Geberverhältnissen wohl noch für bedauerlich anzusehen?“

[97.12] Spricht die Chanchah: „Ach ja, dann freilich wohl sind die Nehmer beinahe noch glücklicher als der Geber. Denn der Geber muss – du wirst mir’s wohl vergeben, so ich hier vielleicht wieder zu viel und zu ungebührlich rede – ja doch sehr viel Sorgen haben, und muss denken über Hals und Kopf, wie er seine Vorratskammern so fülle, dass sie selbst durch die steten reichsten Weggaben nicht erschöpft werden können!

[97.13] Ich habe wohl auf der Erde öfter gedacht, wie es doch dem Lama möglich sein kann, für so endlos vieles zu sorgen, für all das Gras, das da wächst allenthalben, für die Gesträuche und Bäume und für all die zahllosen Tiere und Menschen. Aber da sagte mir meine Mutter:

[97.14] Chanchah, wie denkst du so menschlich vom Lama? Weißt du denn nicht, dass der Lama allmächtig ist und allgegenwärtig mit solcher Seiner Macht? Er, der endlos Weise, darf ja nur wollen, und es geschieht dann sogleich alles, so Er es will, und wann Er es will, und wie Er es will!

[97.15] Siehe, so die Mutter also zu mir redete, dann gab ich sehr Acht und ward auch bald befriedigt. Aber nun möchte ich es von dir, der du ein Diener Lamas bist, erfahren, ob es sich wirklich so verhält mit dem Lama, wie mich die Mutter lehrte.

[97.16] Ist es dem Lama ein Leichtes, zu sorgen für all das Unendliche, oder ist es auch für Ihn schwer? Ist es Ihm ein Leichtes, dann ist Er ebenso gut daran als Geber, als wie gut da all die zahllosen Empfänger daran sind. Macht Ihm aber solch ein unendliches Sorgen für unendliche Bedürfnisse der zahllosen Myriaden doch manchmal bedeutende Schwierigkeiten, da wäre Er bei Seiner unbegrenzten Freigebigkeit wirklich sogar zu bedauern! O sage, du Mein geliebtester Freund, es mir, so du darin nähere Kenntnisse besitzest!“

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Bischof Martin

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