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93. Eine Wiedersehensszene unter den Chinesen. Geschichte der Verräterin

(Am 21. Februar 1848)

[93.1] Auf diese Worte gehen nun alle die hundert lieblichen Angesichts hinter der Schutzwand hervor und erstaunen sich über die große Pracht und Räumlichkeit des Saales, in dessen gegen Mittag gewendetem Teil die tausend früheren Gäste nebst noch anderen mehreren Hunderten sich befinden, die bei der Gelegenheit der inneren Bearbeitung der Mönche und Nonnen mitgerettet wurden.

[93.2] Als die hundert diese vielen Gäste erschauen, die noch zum größten Teil in der naturmäßigen Kleidung stecken, da verwundern sie sich gar überaus mächtig, als sie auch nun wirklich jene Boten sogleich erkennen, die sie auf der Welt im Christentum haben unterweisen wollen. Als sie aber auch jene Chinesin unter ihnen erblicken, die den Hauptboten und dadurch auch sie alle verraten hatte, da machen sie bald finstere Mienen und sagen zu Mir:

[93.3] [Die hundert Chinesen:] „Höre, du liebster Freund, diese Erscheinung berührt uns äußerst unangenehm zwar; aber da sie euch, wie es scheint, nicht zuwider ist, so soll sie es auch uns allen nicht sein. Der Bote, den sie verriet, scheint nun merkwürdigerweise auf einem guten Fuße mit ihr zu stehen, denn er bespricht sich nun ja gar freundlichst mit ihr. Sie ist wohl sonst ein sehr schönes und artiges Wesen, darum sie auf der Welt auch ein Liebling dieses Boten war, so wie sie auch eine wahre Schönheit in der großen Kaiserstadt Peking genannt wurde und daher ein Liebling der ganzen Stadt war. Aber durch ihren gewinnsüchtigen, schnöden Verrat an uns allen hat sie dann wohl auch alle Achtung der großen Kaiserstadt verloren und starb, wie wir vernommen hatten, bald darauf aus Gram.

[93.4] Wir wundern uns daher nun bloß darum hauptsächlich, wie diese doch sichere Dienerin des Ormuz, die den Jesuslama an uns verriet, in diese heiligen Hallen hereingekommen ist! Hat etwa der Lama Selbst ein Wohlgefallen an ihrer Schönheit?“

[93.5] Rede Ich: „Liebe Freunde, hattet ihr nicht auch Kinder, darunter einige fromm, und einige aber recht schlimm waren? Ihr alle sagt: ‚Ja!‘ Ich aber frage euch weiter, und sage: Habt ihr die schlimmen wohl darum den Hyänen und Tigern vorgeworfen, oder habt ihr alle eure Sorge und Liebe nicht diesen euren schlimmeren Kindern zugewendet und habt die frommen um vieles weniger beachtet? Ihr sagt: ‚Ja, ja, so war es!‘

[93.6] Seht, so aber ihr, die ihr durch euer ganzes Leben nie gut gewesen seid, euren sogar schlimmsten Kindern Gutes nur tatet, wie könnt ihr danebst denken, dass der ewig allerbeste Lama Seinen Kindern etwas Böses geben werde, so sie Ihn reuig um etwas Gutes bitten?

[93.7] Diese Jungfrau hat auf der Welt freilich gewisserart übel an euch allen gehandelt. Aber sie bereute später ebenso mächtig ihre vermeintliche böse Tat, als wie mächtig sie früher euch alle geliebt hatte, bevor sie den Hauptboten und dadurch auch unwillkürlich euch alle mit ihm verriet.

[93.8] Und so hat der gute Lama ja auch recht, so Er eines Seiner Kinder nicht sogleich auf ewig verwirft, so es auch Böses getan hätte, dann aber zu Ihm kommt und Ihn von ganzem Herzen reuigst um Vergebung bittet.

[93.9] Seht, der gute Lama braucht demnach nicht verliebt zu sein in eine schöne Pekingerin, um sie selig zu machen. Sondern es ist genug, dass Er ein guter Vater aller Menschen ist und dass Er als solcher erkannt wird. Ist besonders letzteres der Fall, dann hat es mit dem Seligwerden einer schwachen Tochter der Erde gar keine Schwierigkeiten mehr.

[93.10] Was meint ihr lieben Freunde nun – handelt der gute Lama also recht oder unrecht?“

[93.11] Spricht einer aus den hundert: „Ja, also handelt der große, heilige Lama vollkommen gut und gerecht! Aber da sieh, nun bemerkt uns die schöne Chanchah und geht eilends auf uns zu! Was sie uns etwa doch hinterbringen wird? Nun nur still, sie ist schon da!“

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Bischof Martin

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