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9. Weitere Geduldsproben Martins

(Am 24. August 1847)

[9.1] Er sieht sich nach allen Seiten um und wartet und wartet; aber noch immer keine Spur von Schafen und Lämmern. Er steht nun von seinem Stein auf, besteigt denselben und schaut von diesem etwas mehr erhöhten Punkt nach den Schafen; aber auch von da ist nichts zu erschauen.

[9.2] Er fängt nun zu rufen an; aber es meldet sich nichts und kommt auch nichts zum Vorschein. Er setzt sich abermals nieder und harrt. Aber vergeblich, denn es lässt sich von keiner Seite her etwas erschauen. Er wartet noch eine Weile vergeblich; da denn durchaus nichts mehr kommen will, so steht er nun ganz ungeduldig auf, nimmt sein Buch und begibt sich mit folgenden Worten weiter:

[9.3] [Martin:] „Jetzt habe ich aber diese Geschichte satt! Es werden jetzt schon wieder bei einer Million Jahre verflossen sein, wenigstens nach meinem Gefühl, und noch keine Änderung meines Zustandes! Jetzt aber werde ich dir, du mein sauberer Führer, keinen Narren mehr machen; als ein ehrlicher Kerl werde ich dir dies dein dummes Buch in dein lutherisches Haus stellen und mich dann auf den Weg machen – geh’s, wohin es wolle! Es wird diese Welt ja doch auch irgendwo einmal so ganz echt mit Brettern vernagelt sein, wo man dann ex merito wird sagen können: Huc usque et non plus ultra! [Bis hierher und nicht weiter!]

[9.4] Und wenn ich dann in Gottes Namen auf einem solchen Punkt werde etwa eine ganze Trillion oder gar Dezillion Jahre hocken müssen, bis etwa die Geisterweltbretter dann doch auch morsch werden, so werde ich doch wissen, warum! Aber hier für nichts und wieder nichts einen Narren machen, das werde ich fortan bleiben lassen. Denn was man sich selber zufügt, erträgt man leichter, als was unsereinem so ein bornierter Gimpel von einem sein wollenden Führer zufügt. Ich bin nun schon so toll auf diesen lutherischen Lumpen, dass ich mich an ihm gerade vergreifen könnte, so er mir jetzt unterkäme!

[9.5] Kann es denn wohl etwas Langweiligeres und gewisserart auch Peinlicheres geben, als etwas bestimmt Verheißenes erwarten, und dieses kommt nimmer zum Vorschein? Nein, das ist zu arg! Welch eine schaudervoll lange Zeit harre ich nun schon hier; ob der Wirklichkeit oder bloß dem Gefühl nach, das ist nun schon ein – Gott steh uns bei! – und ganz ohne Grund und ohne mir begreiflichen Zweck! Denn wegen der gewissen Schafe und Lämmer – das ist nun schon lange nicht mehr wahr, wie es auch nie wahr gewesen ist!

[9.6] Wenn ich aber hier nur einen mit mir gleichgesinnten Menschen träfe, o wie herrlich wäre das! Wie schön würden wir über diese schundigste Geisterwelt losziehen, dass es eine helle Freude wäre; aber so muss ich diese schöne Freude schon mit mir selbst teilen! Aber nun auf! Es ist keine Zeit mehr zu verlieren, so ich auf diesem Stein nicht selbst zu Stein werden will!

[9.7] Wo ist denn nun das verzweifelte Buch? Hat es sich vielleicht selbst nach Hause getragen, um mir den Weg zu ersparen? Ist auch recht! Aber es geniert mich heimlich doch ein wenig; es ist aber gerade noch dagelegen und ich wollte es in die Hand nehmen – und sieh, es verschwand!

[9.8] Nein, wie diese Geisterwelt dummst bestellt ist, das liegt über dem Horizont aller menschlichen Vorstellung! Ein Buch empfiehlt sich von selbst, so man es verdientermaßen ein wenig durchgehechelt [kritisiert] hat! Die Sache ist nicht übel!

[9.9] Ich werde schon noch müssen diesen Stein auch noch um Vergebung bitten, dass ich so lange mein unwürdiges Wesen habe auf ihm ruhen lassen – sonst empfiehlt sich auch er noch! Und so ich nun mich auf einen Marsch durch diese herrlichen Nebelgefilde und Moosfluren bei doppelter Sonnenwendkäferbeleuchtung machen werde, da werde ich wohl etwa auch das gnädige Moos früher um die Erlaubnis bitten müssen, mir gnädigst zu gestatten, meinen Fuß zu meiner Weiterbeförderung darauf setzen zu dürfen!

[9.10] O das ist schon ganz ver…, halt, nur nicht fluchen! Das ist schon ganz überaus saudumm! Da seht: Auch – Gott sei Dank! – das lutherische Haus samt dem Tempel ist Gott weiß wohin spazieren gegangen! Nur zu, auf die Letzt’ geht schon alles zum Plunder! Nur der Stein ist noch da, wenn’s wahr ist? Das Aussehen hätte es wohl noch, als wäre der Stein noch da; aber ich muss schon genauer sondieren! Richtig, richtig, auch der Herr von Stein hat sich empfohlen!

[9.11] No, jetzt wird es etwa doch auch für mich an der Zeit sein, sich zu empfehlen? Aber wohin? Da ist hier wahrlich nicht viel zu wählen! Nur schnurgerade der Nase nach – vorausgesetzt, dass ich noch eine Nase habe; denn wer wie ich nun schon zum zweiten Mal einige Millionen Jahre bloß bei der Nase herumgeführt wurde, der müsste sich doch im Ernst fragen, wie es noch mit dem Besitz dieses Gliedes steht? Aber Gott sei Dank, ich habe es noch; daher nun nur vorwärts diesem einzigen Wegweiser nach in dieser wirklich schönen Geisterwelt!“

[9.12] Seht, nun fängt er an zu gehen, und der Engel Petrus folgt ihm unsichtbar. ‚Gehen‘ in der Geisterwelt aber heißt ‚andern Sinnes werden‘, und wie sich dieser ändert, so ändert sich auch scheinbar der Ort. Wir werden nun bald sehen, wohin sich unser Mann wenden wird.

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Bischof Martin

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