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8. Martins kritisches Selbstgespräch und Sündenbekenntnis

[8.1] Ganz allein nun wieder auf der Wiese, fängt er nach einer Weile mit sich selbst folgenden Diskurs zu führen an, der da lautet:

[8.2] [Martin:] „Wo ist er denn jetzt hin, mein Führer? Ein sauberer Führer das; wenn man ihn am nötigsten brauchen würde, da verschwindet er und ist nun Gott weiß wo! Nur so man irgend gefehlt hätte, da ist er in einem Nu da – eine Eigenschaft, die ich am allerwenigsten leiden kann! Entweder bei einem bleiben und führen auf solchen unsicheren Wegen, wie diese geisterweltischen da sind, oder – er soll sich packen für ewig von mir, so er nur dann zu mir kommt, wenn ich schon irgend gesündigt hätte! O solche Narren gäbe es mehrere!

[8.3] Will er mich der Seligkeit zuführen, so bleibe er bei mir sichtbar, sonst ist seine Führerschaft nicht ’s Anpissen wert! Na warte, du lutherischer Versteckpatron von einem Führer, du sollst an mir einen Knochen zu nagen bekommen, dass dir alle deine Geduld vergehen soll! Was kann mir denn nun noch mehr geschehen? Lutheraner bin ich, nach der Lehre Roms vollkommen zur Hölle reif – vielleicht, ohne dass ich’s merke, schon darinnen?!

[8.4] Daher lass die schönen Lämmer nur noch einmal zu mir kommen! Ich werde ihnen zwar kein Wolf in Schafskleidern sein, aber ein Liebhaber voll Feuer, wie es keinen zweiten auf der Erde je gegeben hat! Meine Hand werde ich nie gegen sie erheben und sie auch aus diesem Buch nicht verlesen, auf dass sie ja nicht mehr fliehen sollen vor mir. Ich will mich zwar auch nicht mehr so weit vergessen mit einer oder der andern; aber von der Handaufhebung und vom Vorlesen soll an mir keine Spur zu entdecken sein! Und kommt er dann etwa wie aus irgendeinem Schlupfwinkel zum Vorschein, da soll er sehen, wie ein Bischof von der Erde reden kann, so er es will!

[8.5] Wo etwa nur die lieben Engerl so lange bleiben? Denn bis jetzt ist noch keine Spur von ihnen irgendwo zu entdecken. Ich merke aber nun auch an mir, dass ich nun viel mutiger und kecker geworden bin! Daher nur her mit euch, ihr lieben Engerl, ihr sollt an mir nun schon den rechten Mann finden – keinen Feigling mehr, sondern einen Helden, und was für einen Helden!

[8.6] Aber noch immer weilen sie irgendwo! Es ist doch schon eine geraume Zeit, seit mein Führer mich verließ, und noch immer keine Seele irgendwo zu entdecken! Was soll denn das sein? Hat mich etwa gar mein sauberer Führer so hübsch angesetzt etwa für alle ewige Zeiten? Die Geschichte riecht so hübsch stark danach! Mir kommt schon wieder vor, als wenn, seit er mich verließ, schon so einige Dutzend Jährle verstrichen wären, es werden etwa gar wieder Millionen herauswachsen?

[8.7] Es ist dies Geisterweltleben schon ein wahres Sauleben! Man steht da wirklich wie ein Ochse am Berg: Alles ist so dunstig; kein rechtes Licht! Alles ist das nicht, als was es sich zeigt! Der Stein, auf dem ich nun schon eine geraume Zeit der Schafe und Lämmer harre, ist sicher auch etwas ganz anderes, als was er zu sein scheint! Auch die lieben Engerl! – Gott weiß, wo und was sie so ganz eigentlich sind. Wahrscheinlich – nichts! Denn wären sie was, da müssten sie schon da sein! Ja, ja, es ist alles nichts, was da ist! Mein Führer auch; sonst könnte er ja doch unmöglich so schnell in ein reinstes Nichts verschwinden.

[8.8] Am meisten finde ich dieses Leben dem Traumleben ähnlich. Da hat es mir auch oft von allerlei dummen Dingen geträumt, von allerlei Metamorphosen. Was waren sie aber? Nichts, nichts, in Bildern ausgeprägt von der phantastischen Einbildungskraft der Seele! Also ist nun auch dieses Leben nichts als ein eitler, leerer, höchstwahrscheinlich ewiger Traum; bloß dies mein Räsonnement scheint wirklich von einem Gehalt zu sein; alles andere aber ist nichts als ein elendes Phantasiestück der Seele. Nun warte ich schon sicher bei zweihundert Jahre hier auf die Lämmer und Schafe, aber es ist keine Spur irgend von ihnen zu entdecken!

[8.9] Was mich aber dennoch wundert: dass in dieser Phantasiewelt dies Buch, diese meine Bauernkleidung, auch diese Gegend samt dem lutherischen Haus und Tempel so ganz unverändert ihre Gestalt behalten? Diese Geschichte ist allerdings etwas spaßig. Etwas scheint an der Sache doch zu sein, aber wie viel, das ist eine andere Frage.

[8.10] Oder sollte etwa doch das nicht recht sein, dass ich nicht gleich anfangs den Sinn fasste, seiner Lehre fest Folge zu leisten? So er aber ein rechter Führer ist, hätte er mir’s denn nicht sogleich verweisen können, anstatt dass er sich sogleich mir und dir nichts wurz aus dem Staub machte?! Hat er denn nicht gesagt, dass, so ich noch einmal fiele, ich dann in einen großen Schaden käme, an dem ich im Ernst mehrere Hunderte von Erdjahren dann werde zu lecken haben? Bin ich denn aber schon auch wirklich gefallen? Mit dem Gedanken und bloßen Willen freilich wohl, aber im Werk unmöglich, weil die gewissen Engerl gar nicht zum Vorschein gekommen sind.

[8.11] Vielleicht aber sind etwa diese darum nicht erschienen, weil ich solche Gedanken und solchen Willen hatte? Das könnte sehr leicht sein! Wenn ich aber nur solche Gedanken loswerden könnte! Warum mussten sie aber auch gar so entsetzlich schön und reizend sein? Da habe ich mich einmal ordentlich eingetunkt. Jetzt heißt es denn warten, bis sich meine dummen Gedanken legen werden – und der Wille mit ihnen!

[8.12] Das seh ich aber nun schon ein: Wenn das eine Prüfung meiner Hauptschwäche ist, so wird es mit mir einen ganz verzweifelten Haken haben; denn in diesem Punkt war ich auch auf der Welt insgeheim ein Vieh in optima forma [in bester Form]! Ja, wenn ich da so eine recht üppige Dirne sah, so ging’s mir – – – taceas! [Schweig!] Wie viele habe ich – – taceas de rebus praeteritis! [Schweig über vergangene Dinge!] Schöne junge Nonnen! – Taceas, taceas! – O das waren selige Zeiten – aber nun taceas!

[8.13] Wie streng war ich im Beichtstuhl gegen die Beichtkinder und wie lau gegen mich! Leider, leider, es war nicht recht; aber wer außer Gott hat Kraft, der Macht der Natur zu widerstehen?

[8.14] Wenn das saudumme Zölibat nicht wäre und ein Bischof der Mann eines ordentlichen Weibes wäre, wie es meines Wissens Paulus auch ausdrücklich verlangte, da hätte man mit dem Fleisch doch sicher einen leichteren Kampf. Aber da lebt so ein Bischof stets wie ein Adam vor den Segnungen des Erkenntnisbaums mit der verführerischen Eva in einem gewissen – Paradies und kann sich an dem dargereichten Apfel nimmer satt fressen!

[8.15] O Lumperei, o große Lumperei! Es ist nun einmal so, wer kann’s ändern? Der Schöpfer allein, so Er es will; ohne Ihn aber bleibt der Mensch – besonders aus meinem Gelichter – schon allzeit und ewig ein Vieh, und das ein recht abscheulichstes Vieh!

[8.16] Herr, sei mir gnädig und barmherzig! Ich sehe schon, so Du an mich nicht Deine Hand legen wirst, wird’s mit mir schwer weitergehen; denn ich bin ein Vieh – und mein Führer ein eigensinniger Tropf, vielleicht gar Luthers Geist! Da wird es nicht gehen. Geduld, verlass mich nicht; schon wieder tausend Jahre auf einem Fleck!“

[8.17] Nun verstummt er endlich und harrt der Schafe und Lämmer.

(Am 23. August 1847)

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