Am 9. Mai 1844
[204.1] Als Maria das Kindlein eine Zeitlange abgeherzt hatte, da fragte sie Es ganz furchtsam:
[204.2] „Mein Jesus, wirst Du mich, Deine Magd, wohl wieder lieben, wie die Magd Dich ewig lieben wird?“
[204.3] Und das Kindlein lächelte die Maria gar freundlichst an und sprach:
[204.4] „Aber was hast du da wieder für eine schwache Frage gestellt!
[204.5] Wenn Ich dich nicht mehr liebte als du Mich, was – wahrlich, wahrlich! – wärest du da wohl?
[204.6] Siehe, so du Mich liebtest mit der Glut aller Sonnen, so aber wäre dennoch solche deine Liebe nichts gegen jene Meine Liebe, wie Ich den ärgsten Menschen selbst noch in Meinem Zorn liebe!
[204.7] Und Mein Zorn selbst ist mehr Liebe als deine größte Liebe!
[204.8] Was ist dann erst Meine eigentliche Liebe, die Ich zu dir habe?!
[204.9] Wie hätte Ich dich wohl je zu Meiner Gebärerin gewählt, wenn Ich dich nicht geliebt hätte mehr, als es je die Ewigkeit fassen wird?!
[204.10] Siehe, wie schwach da deine Frage ist! Ich aber sage dir: Nun gehe und bringe die Tullia;
[204.11] denn Ich habe gar wichtige Dinge mit ihr zu reden!“
[204.12] Hier gehorchte die Maria plötzlich und ging und holte des Cyrenius Weib.
[204.13] Als die Tullia ganz furchtsam in das Kabinett trat, da sich das Kindlein befand, da richtete Sich das Kindlein auf und sprach zur Tullia:
[204.14] „Tullia, du Erweckte, höre! Es war einst ein großer König und war ledig und voll männlicher Schönheit und voll echter göttlicher Weisheit.
[204.15] Dieser König sprach zu sich: ‚Ich will gehen und mir ein Weib suchen in einem fremden Ort, da mich niemand kennt!
[204.16] Denn ich will ein Weib nehmen meiner selbst willen, und das Weib solle mich lieben, darum ich ein weiser Mann bin; aber nicht, da ich ein großer König bin!‘
[204.17] Und so zog er aus seinem Reich in die ferne Fremde und kam da in eine Stadt und machte da bald Bekanntschaft mit einem Haus.
[204.18] Die Tochter des Hauses ward erwählt, und diese hatte eine große Freude; denn sie erkannte bald in dem Bewerber eine große Weisheit.
[204.19] Der König aber dachte: ‚Du liebst mich nun wohl, da du mich siehst und meine Gestalt und meine Weisheit dich fesselt!
[204.20] Ich aber will sehen, ob du mich wahrhaft liebst! Darum werde ich mich als Bettler verkleiden und werde dich so öfter belästigen.
[204.21] Du aber sollst nicht wissen und irgend im Geringsten erfahren, dass ich im Bettler stecke.
[204.22] Wohl aber solle der Bettler ein Zeugnis von mir tragen, als sei er mein inniger Freund, aber sonst arm in dieser Fremde wie sein Freund.
[204.23] Und es solle sich da zeigen, ob diese Tochter mich wahrhaft liebt!‘
[204.24] Und wie sich der große König die Sache ausgedacht hatte, also wurde sie auch sogleich ausgeführt.
[204.25] Es kam nach einiger Zeit, da der König zum Schein verreiste, der Bettler zur Tochter und sprach zu ihr:
[204.26] ‚Liebe Tochter dieses reichen Hauses, siehe, ich bin sehr arm und weiß, dass du große Reichtümer besitzt!
[204.27] Ich saß am Tor, als dein herrlicher Bräutigam von dir sich verreiste, und bat ihn um ein Almosen.
[204.28] Da blieb er stehen und sprach: ‚Freund! Ich habe hier nichts, das ich dir reichen könnte außer dies Angedenken von meiner Braut, die sehr reich ist!
[204.29] Gehe in jüngster Zeit zu ihr, und zeige ihr das in meinem Namen, und sie wird dir so sicher geben, als sie mir geben würde, dessen du vonnöten hast!
[204.30] Wenn ich aber ehestens zurückkehren werde, da werde ich ihr tausendfach alles ersetzen!‘
[204.31] Als die Tochter solches vernommen, war sie voll Freuden und beteilte den Bettler.
[204.32] Da ging der Bettler und kam in wenigen Tagen wieder und ließ sich melden bei der Tochter.
[204.33] Die Tochter ließ ihn auf ein anderes Mal bescheiden, da sie nun Besuche hatte.
[204.34] Der Bettler kam zum anderen Male und ließ sich melden.
[204.35] Da hieß es: ‚Die Tochter ist mit einigen Freunden ausgegangen!‘ – Und der Bettler kehrte traurig zurück.
[204.36] Als er an das Haustor kam, da begegnete ihm die Tochter in der Mitte ihrer Freunde und achtete des Bettlers kaum.
[204.37] Wohl sagte dieser: ‚Liebe Braut meines Freundes, wie liebst du ihn denn, so du seinen Freund nicht hörst?‘
[204.38] Die Tochter aber sprach: ‚Ich will Zerstreuung; wenn der Freund kommen wird, den werde ich schon wieder lieben!‘
[204.39] Darauf begab sich am nächsten Tag der Bettler wieder zur Tochter und fand sie voll Heiterkeit; denn sie hatte ja eine recht muntere Gesellschaft.
[204.40] Und der Bettler fragte sie: ‚Liebst du wohl deinen Bräutigam, und bist so heiter, da er verreiste in Geschäften um dich?‘
[204.41] Da schaffte die Tochter den Bettler hinaus und sprach: ‚Das wäre ein Verlangen! Ist’s nicht genug, so ich ihn liebe, wenn er da ist? Was solle ich ihn in seiner Abwesenheit auch lieben? Wer weiß, ob er mich liebt!?‘
[204.42] Hier warf der Bettler sein zerrissenes Oberkleid weg und sprach zur erstaunten Tochter:
[204.43] ‚Siehe, der verreist ist, war stets hier, zu merken deine Liebe!
[204.44] Du aber dachtest kaum an ihn, und der, der dir das Zeichen deines Schwures zeigte, ward verstoßen und verhöhnt, da dir die Weltgesellschaft besser zusagte!
[204.45] Aber siehe, eben dieser ist jener, der nun vor dir steht, und ist jener große König, dem alle Welt zugehört!
[204.46] Und dieser gibt dir nun alles zurück, was du ihm gabst, tausendfach; aber dir kehrt er für ewig den Rücken, und du sollst nimmer sein Angesicht sehen!‘
[204.47] Tullia, kennst du diesen König und diesen Bettler? Siehe, Ich bin es, und du bist die Tochter! Auf der Welt sollst du glücklich sein;
[204.48] was aber nachher, das sagt dir dies Gleichnis!
[204.49] Ich gab dir Leben und großes Glück, und du magst Meiner nicht gedenken!
[204.50] O du blind geborene Römerin! Ich habe dir Licht gegeben, und du hast Mich nicht erkannt!
[204.51] Ich gab dir einen Mann aus den Himmeln, und du wolltest an ihm Meinen Liebeteil für dich nehmen!
[204.52] Da warst du tot; Ich habe dich wieder erweckt, und du nahmst dafür der Welt Huldigungen an und achtetest Meiner nicht!
[204.53] Und jetzt, da Ich dich rufen ließ, bebst du vor Mir wie eine Ehebrecherin!
[204.54] Sage! – was wohl solle Ich mit dir anfangen?
[204.55] Solle Ich ferner noch betteln vor deiner Tür?
[204.56] Nein! – das werde Ich nicht; aber Ich werde dir geben deinen Teil, und dann werden wir quitt sein!“
[204.57] Diese Worte erfüllten das ganze Haus Josephs mit Entsetzen.
[204.58] Das Kindlein aber begehrte mit Seinem Jakob allein hinaus in die Freie zu gehen und kehrte bis zum Spätabend nicht wieder zurück.
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