Am 1. Mai 1847
[76.1] Ganz in der Mitte von Asien, im hohen Tibet, lebt noch ein Volk, welches die uralte patriarchalische Verfassung hat. Unter allen alten Religionen der sogenannten Parsen und Gebern ist die Religion dieses Volkes noch die am meisten ungetrübte.
[76.2] Sie haben noch das eigentliche Sanskrit, in welchem von dem Zenda vesta gehandelt wird; denn das Sanskrit ist die heilige Schrift der Urzeit, und die in dieser Schrift enthaltenen Geheimnisse namens Zenda vesta, in eurer Sprache: „die heiligen Gesichte“, sind historische Überlieferungen von den mannigfaltigen göttlichen wunderbaren Führungen des Menschengeschlechtes in der Urzeit.
[76.3] Es ist darum falsch, so hie und da manche das Sanskrit und das Zenda vesta als gewisserart zwei Bücher annehmen; das Ganze ist nur ein Buch, und dieses ist abgeteilt in das Buch der Kriege Jehovas und in das Buch der Propheten.
[76.4] Da aber ebendie Propheten durch ihre heiligen Gesichte die Taten Gottes beschreiben, so sind diese scheinbaren zwei Bücher eigentlich nur ein Buch, welches sich bei den obbenannten Bewohnern des hohen Tibet noch ziemlich unverfälscht vorfindet und ungefähr dasselbe enthält, was Ich euch im von euch sogenannten Hauptwerk aus der Urzeit mitgeteilt habe; nur ist dort alles noch in der Ursprache in lauter geheimnisvolle Bilder eingehüllt, die für die neue Zeit schwer oder gar nicht zu enträtseln sind.
[76.5] Bei einigen Patriarchen dieses Volkes ist wohl noch etwas von der alten Weisheit vorhanden, durch welche diese alte Schrift mittels Entsprechungen dem menschlichen Verstand nähergebracht wird, aber von einer völlig gründlichen Erläuterung kann da keine Rede sein; denn wo dergleichen Geheimnisse nicht aus Meinem Licht können erläutert werden, da bleiben sie stets in einem gewissen Zwielicht, in welchem man leicht einen alten halb verfaulten Baumstock für einen Bären ansieht.
[76.6] Man wird da voll Furcht, und eine Geheimnistiefe macht der anderen Platz, wenn aber die Sonne aufgeht, da verschwinden alle die tiefen mit Furcht und Angst beladenen Geheimnisse, und der mysteriöse Bär wird zu einem ganz natürlichen halb verfaulten Baumstock.
[76.7] So ist es auch mit diesen uralten mysteriösen Bilderschriften; da glaubt der Betrachter darinnen Tiefen über Tiefen und Weisheit über Weisheit entdecken zu müssen. Ein jedes Häkchen scheint eine Sonnenenthüllung in sich zu fassen; allein kommt jemand in Mein Licht, so werden all diese Geheimnisse schwinden, und er wird in einer solchen Schrift nichts als eine getreue Erzählung jener freilich wunderbaren Tatsachen finden, welche Ich an den Menschen dieser Erde ihrer Vollendung wegen habe verüben müssen.
[76.8] Aber eine solche Erklärung findet sich freilich bei unseren Hochtibetbewohnern nicht vor, aber dafür eine für euch kaum glaubliche Geheimniskrämerei; denn dieses Volk ist so voll Mystizismus, dass es in dieser Hinsicht wohl den ersten Rang auf der ganzen Erdoberfläche einnimmt.
[76.9] Da gibt es viele, die mit Sternen förmlich reden, die Tiersprache verstehen, auch mit den Bäumen und mit dem Gras wie auch mit den Felsen sich ins Einvernehmen zu setzen festen Glaubens sind.
[76.10] Einige unter ihnen können sich sogar, ihrer Meinung nach, völlig unsterblich machen; wieder andere machen sich unsichtbar, und die meisten aber sind ganz vertraut mit den Geistern und leben fortwährend in ihrer Gemeinschaft.
[76.11] Bei allem dem glauben sie aber dennoch fest an einen Gott, vor dem sie aber eine so unendliche Ehrfurcht besitzen, dass sie sich seinen Namen nie auszusprechen getrauen.
[76.12] Nur allein dem allerältesten Patriarchen ist es in einem Jahr einmal gestattet, den Namen Gottes auszusprechen, jedoch an einem solchen Ort, der für sonst niemand zugänglich ist; und an dem Tag, an welchem dieser Name ausgesprochen wird, muss alles diese Lehre bekennende Volk vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang auf den Angesichtern liegen und weder Speise noch Trank zu sich nehmen.
[76.13] Ehrfurcht vor Gott dem Herrn ist freilich wohl recht, aber der Grundsatz: „Von was immer allzu viel ist schädlich“, findet auch hier seine Anwendung. Denn Ehrfurcht, wenn sie eine solch horrende Übertreibung bekommt, zerstört die Liebe; diese allein aber ist und bleibt ewig die Grundbedingung alles Lebens.
[76.14] Jede Furcht, wenn sie bis auf den höchsten Kulminationspunkt gesteigert wird, ist tödlich und zerstört mit der Zeit alles Gute; nur die Liebe allein vermehrt das Leben stets in dem Grade, wie sie selbst vermehrt wird.
[76.15] Zufolge dieser allertiefsten Ehrfurcht vor dem Namen Gottes sind bei diesem Volk aber auch eine Menge höchst alberner und lächerlicher Bußen gang und gäbe, welche wohl auch bei den Braminen anzutreffen sind, weil die Braminen gewisserart Abkömmlinge dieses Volkes wie jener Religion sind; aber in vollster Ausdehnung sind sie noch bei unseren Hochtibetanern zu Hause.
[76.16] Nicht selten wird man hier zwanzig Jahre auf einem Fleck stehende Büßer antreffen, auch hängende Büßer, die sich irgendeinen Haken durch die Haut ziehen und sich dann mittels eines Strickes auf einem Baum aufhängen lassen, wo sie so lange hängen bleiben, bis entweder der Strick abgefault ist oder die Haut über dem Haken; denn sterben können nur wenige bei einer solchen Bußoperation, weil sie von ihren Angehörigen fürs Erste an der Stelle der Verwundung allersorgfältigst mit kühlenden und heilenden Ölen begossen und fürs Zweite mit der besten Kost, die sie haben, täglich dreimal gespeist werden.
[76.17] So gibt es auch einige Büßer, die sich mit schweren Ketten belegen und sich sodann über Gräben, Hügel und Steingerölle zehn Jahre lang herumwälzen und nicht selten einen Weg von 200 Meilen machen, freilich nicht in gerader Richtung. Dergleichen Bußwerke haben sie eine große Menge, welche nichts als Folge ihrer zu übertriebenen Ehrfurcht vor dem Namen Gottes sind.
[76.18] Diese jetzt noch fast ganz alleinigen Theokraten verrichten in der Geisterwelt eben auch keine denkwürdige Rolle; denn auch sie müssen früher Christus annehmen, was ein ziemlich schweres Stück Arbeit abgibt, woran eben ihre zu unendlich hohe Vorstellung von Gott schuld ist.
[76.19] Diese macht ihnen vollkommen unbegreiflich, wie Gott Sich hat zu einem Menschen herabwürdigen können, und noch unbegreiflicher, wie Er Sich hat von den Menschen sogar kreuzigen lassen.
[76.20] Geht aber Christus schon hier bei euch einem rechten Deisten nicht ein, wie viel weniger erst diesen Menschen, die unter allen Völkern der Erde von Gott die allerungeheuerste mysteriös-erhabenste Vorstellung haben. Da könnte man auch sagen: Den Menschen wäre so etwas nicht möglich, bei Gott aber sind alle Dinge möglich.
[76.21] Im Übrigen aber hat dieses Volk besonders gegen Fremde und Arme überaus lobenswerte Eigenschaften. Da besteht noch die uralte vollkommene Gastfreundschaft; wer dahin kommt, wird so lange bestens verpflegt, als er dort zu bleiben willens ist. Jeder Dienst wird ihm bereitwilligst willfahrt, wenn er nicht irgend zu sehr mit ihren Religionsgesetzen im Widerspruch steht.
[76.22] Steht aber irgendein Begehren nur in einem mäßigen Widerspruch mit ihren Religionsgesetzen, so wird es auch dennoch aus Achtung für den Fremden gewillfahrt; aber der dadurch dem Fremden sich wider sein Gesetz Opfernde übt dann zur Reinigung seiner Person die vorgeschriebene Buße freiwillig.
[76.23] Arme werden als eine Art Heiligtum betrachtet, und man könnte sagen: Wohl dem, der dort arm geworden ist; denn dem geht es besser als allen noch so Wohlhabenden dieses Volkes. Aber so gut das ist, wenn man sich der Armen annimmt, so nachteilig auch wirkt eine zu übertriebene Barmherzigkeit gegen die Armen; denn da sucht dann bald jedermann, den das Arbeiten nicht freut, wo nur immer möglich arm zu werden, weil er als solcher wohl weiß, dass er dann von den anderen auf den Händen getragen wird.
[76.24] Es ist zwar bei diesem Volk ein Gesetz, nach welchem jemand als Armer zu betrachten ist; Arme sind bei diesem Volk nur Lahme, Krüppelhafte, Blinde, Taube, auch verstümmelte und arbeitsunfähige Büßer, und Greise von 70 Jahren und darüber. Diese Armen werden mit der größten Achtung und Zuvorkommenheit behandelt; aber ebendiese ausgezeichnete Behandlung gibt nicht selten Anlass, dass sich arbeitsscheue Menschen selbst verstümmeln, um dann in die Klasse der Armen aufgenommen zu werden.
[76.25] Hier ist also von dem in medio beati [in der Mitte liegt das Richtige] nicht viel zu finden. Es ist, wie Ich schon gesagt habe, sehr recht, den Armen Gutes zu tun, es ist gut, die Durstigen zu tränken, die Hungrigen sättigen, die Nackten bekleiden und die Gefangenen erlösen; aber Arme förmlich auf einen Thron hinaufsetzen, das solle nicht sein, denn die Armut soll immer eine Prüfung des Geistes verbleiben, und der Arme soll vielmehr bei Mir als bei den Menschen Hilfe suchen und finden.
[76.26] Nachdem wir nun dieses Volk haben kennengelernt und bei ihm nicht viel mehr zu erlernen ist, so wollen wir uns das nächste Mal wieder zu einem anderen wenden.
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