[27.1] Sagte Joram: „Lieber Knabe, uns tut es wahrlich recht sehr leid, so wir Dich irgend beleidigt haben, und dass Du uns nun schon so früh zu verlassen gedenkst! Höre mich, Du lieber göttlicher Knabe! Denn ich will nun noch ganz offen ein paar Wörtlein zu Dir reden und bin der Meinung, dass Du sie mir nicht übel deuten werdest, und so ich Dich dann um einen Rat bitten würde, da wirst Du deinen Mund vor uns und vor mir nicht verschließen?!“
[27.2] Sagte Ich: „So rede denn, obwohl Ich weiß, was du reden wirst und welches Rates du benötigst; und spreche du dich dennoch der anderen wegen laut aus, denn sie haben es nötiger, das laut zu vernehmen, denn wir beide!“
[27.3] Hierauf trat Joram näher zu Mir hin und sagte: „Dass Du unfehlbar derjenige bist, der uns verheißen ist und auf dessen Ankunft alle Juden und mit ihnen auch die anderen Völker harren, darüber sind bei mir alle Zweifel gewichen, und was mir die Augen am meisten geöffnet hat, war Deine höchst genaue Kunde von dem innersten losen Tempelgetriebe schon seit alters her!
[27.4] Denn es ist also und ist schon lange also, und weil es leider also ist, war allein der Grund, dass sich das bedeutende Land Samaria von uns gänzlich getrennt hat und wir nun mit Galiläa nicht um vieles besser stehen als mit Samaria. Vom Geist ist bei uns nun gar nichts mehr. Nur durch eine notgedrungene Politik erhalten wir noch das bisschen Ansehen des Tempels.
[27.5] Ich war zwar ein genötigter Teilhaber an der schwarzen Disziplin der Mauern Salomons, konnte aber, ob auch das Übel einsehend, als ein einzelner Mensch nichts gegen sie tun, da bei uns jeder effektive Beschluss vom großen Rat abhängt und da stets die Stimmenmehrheit den leidigen Ausschlag gibt. Ich war mit meiner einzelnen Stimme wohl bei solchen Gelegenheiten, wie Du vor uns aufgedeckt hast, nie dafür, sondern allzeit dagegen, aber das hat dem zu Verurteilenden keinen Nutzen gebracht.
[27.6] Ich sehe es nur zu klar ein, dass sich der Tempel so nicht mehr sieben Dezennien halten kann, und doch ist es anderseits dennoch für dieses alte, ehrwürdige Institut ewig schade, dass es offenbar zugrunde wird gehen müssen, und das nun umso sicherer, als uns in der nächsten Nähe noch die Essäer und die Sadduzäer stark über den Kopf zu wachsen anfangen.
[27.7] Aber hier fragt es sich nun ganz ernstlich um den Rat, was da noch zu tun sein könnte, um den Tempel dem nächstfolgenden Jahrhundert zu erhalten! In Dir, Du göttlicher Knabe, scheint jene Weisheit in aller Fülle vertreten zu sein, die hier meiner Meinung allein einen maßgebenden Rat erteilen könnte?
[27.8] Und nun schließlich, da Du schon der Verheißene sein sollst – woran ich, wie gesagt, für meine Person nicht den geringsten Zweifel mehr habe – noch etwas höchst Sonderbares über den Messias eben aus dem Propheten Jesajas!
[27.9] Hier hast Du das 53. Kapitel – da sieht es mit dem erhabenen Messias, der ganz identisch mit Jehova ein und dasselbe Wesen ist, ganz besonders aus. Es wird von seiner menschlichen Hässlichkeit Erwägung getan, wo es heißt: ‚Dass sich viele über Ihn ärgern werden, weil seine Gestalt hässlicher ist denn die anderer Leute und sein Ansehen denn der anderer Menschenkinder.‘ [Jes. 52,14]
[27.10] Und da, sieh, wieder weiter heißt es: ‚Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war verachtet, dass man das Angesicht vor Ihm verbarg; darum haben wir Ihn nicht geachtet!‘ [Jes. 53,3]
[27.11] Wahrlich, wenn ich Deine ganz vollkommen gesunde Gestalt, die dazu noch von großer Anmut ist, betrachte und nun auch sehe, wie Du geachtet bist, so stimmt das mit dem Propheten wohl durchaus nicht zusammen! Oder was hatte der Prophet damit sagen wollen?“
[27.12] Sagte Ich: „Ja, das wird das endliche vollwahre Zeichen sein, dass eben Ich der Verheißene bin! Denn an Mir wird das alles vollzogen werden nahe buchstäblich, was da gesagt ist. Was jedoch Meine Leibesgestalt anbelangt, so hat die Aussage des Propheten darauf keinen Bezug, sondern der Prophet drückt da bildlich entsprechend nur die gänzlich verkehrte Gemütsart und Denkungsweise der jetzigen Menschen aus, dem gegenüber Meine Gemütsart und Denkweise sich ausnehmen wird wie eine hässliche Gestalt, die da verkümmert ist durch allerlei Krankheit und viele Schmerzen.
[27.13] Ich werde darum bei den Angesehenen und Reichen dieser Welt auch sehr verachtet sein, und man wird fliehen vor Mir wie vor einem Aas, und so es von oben zugelassen wird, wird man Mich verfolgen wie einen ärgsten Verbrecher, wie sich solches nun schon bei euch augenfällig gegen Mich zeigte. Denn stünde Ich, als vor euch ein Menschenkind, nicht unter römischem Schutz, und es wäre die Zeit der Zulassung über Mein Außenmenschliches schon da, so wäre Ich nimmer lebend aus euren Händen gekommen.
[27.14] So wie ihr aber nun zum größten Teil seid, also werdet ihr auch fortan bleiben, bis dereinst das große Gericht über euch ergehen wird, von dem der Prophet Daniel geweissagt hat, als er an der heiligen Stätte stand.
[27.15] Aber es könnte das alles auch anders gehen, so ihr eure große Irre erkenntet, Buße tätet und euch bekehrtet gänzlich! Aber es wird das mit euch je schwerlich der Fall werden, und somit ist der von Mir euch zu gebende und hiermit auch schon gegebene Rat ein fruchtloser! Denn ihr hängt zu mächtig an eurem Weltansehen und an euren irdischen Schätzen, und diese werden euch in das Gericht stürzen! Nicht Ich werde je über euch den Stab brechen – obwohl Ich es könnte in Folge Meiner Macht –, sondern ihr selbst und euer Welttum wird das über euch tun!
[27.16] Oder du meinst nun, Ich solle euch nun nur eine rechte Weisung geben – ihr werdet darüber zu Rate sitzen und beraten, wie solche unvermerkt dem Volk beizubringen wäre? Ja, ja, ihr würdet darüber wohl einen Rat halten, und euer Geld und Weltansehen würde dann euch entgegentreten und sagen: ‚Wir bleiben, was wir sind, und wollen erst abwarten, ob jenes Gericht je über uns hereinbrechen werde; denn ein so altes und befestigtes Institut soll sich denn doch nicht von einem galiläischen Knaben ins Bockshorn treiben lassen!‘ Dann wird Mein Rat mittelst der Stimmenmehrheit verworfen, und ihr werdet also sein wie jetzt und noch eigentlich um vieles ärger!
[27.17] Tuet hinweg euer vieles Gold und Silber, hinweg eure vielen und überkostbaren Edelsteine und die große Masse Perlen. Teilt vieles unter die Armen, und das viele Mehrere gebt dem Kaiser, der allein das Recht hat, die Schätze der Erde zu sammeln und sie zu gebrauchen zur Zeit der Not. Lebt allein von dem, was euch Moses bestimmt hatte, bereut die vielen Frevel und sühnt die großen Sünden durch die Werke der wahren Nächstenliebe. Habt keine Geheimnisse vor dem Volk, sondern seid wahrhaftig, gerecht und getreu in allen euren Reden und Handlungen, und werdet gegen vom Geist Gottes erweckte Menschen niemals halsstarrig; so wird das Gericht unterm Wege verbleiben und der Tempel bestehen bis ans Ende der Welt.
[27.18] Denn Gott der Herr will die Menschen zu keinen Maschinen Seiner Allmacht, sondern zu ganz freien, selbsttätigen und selbständigen Kindern will Er sie haben! Er bedarf eurer Opfer und eurer Gebete ewig nicht, sondern dass ihr in euren Herzen Ihn erkennt, Ihn über alles liebt und eure nächsten armen Brüder wie euch selbst. Tut ihnen alles, was ihr weisermaßen auch wollen könnt, dass sie solches auch euch täten, so werdet ihr bei Gott alle Gnade wiederfinden und werdet Ihm angenehm sein, wie einer Mutter ihre liebsten Kinder, und Er wird euch schirmen, wie eine Löwin ihre Jungen, und sorgen für euch, wie eine Henne für ihre Küchlein!
[27.19] Könnt ihr das tun? O ja, ihr könntet es wohl tun, so ihr dazu den rechten Willen hättet, aber an dem fehlt es euch und hat euch immer daran gefehlt, und somit habe Ich nun so gut wie alle die vor Mir dagewesenen Propheten und Seher zu tauben Ohren und Herzen geredet!“
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