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Zehntes Beispiel. Der Arme

Am 16. Oktober 1848

[10.1] Der Tod oder eigentlich der Austritt aus diesem Prüfungsleben in das wahre ewige Geisterleben eines armen Tagwerkers, dergleichen die Großen der Welt bei sich meist „Luder“, „Kanaille“ und „elendes Lumpengesindel“ nennen.

[10.2] Da geht mit Mir in ein ärmstes Stübchen, das mehr dem Loch eines Bären als einem für Menschen bewohnbaren Zimmer gleicht. Kaum einige Kubikklafter beträgt der innere Raum. Eine stark schadhafte Tür führt in dieses Loch, das ober der Tür eine zwei Spannen lange und eine Spanne hohe Öffnung hat, durch die von einer schmutzigen Stallmauer eines nachbarlichen Reichen ein sehr gebrochenes und geschwächtes Licht fällt und des Loches innere Räumlichkeiten gerade so viel erleuchtet, dass sich dessen sieben Bewohner nicht die Augen gegenseitig verletzen mögen. Dieses Prachtgebäude von einem Wohnzimmer hat weder Ofen noch Herd; des letzteren Stelle vertritt in einem Winkel ein schmutzigster, unbehauener, kaum ein Fuß hoher Kalkstein, auf dem die armen Bewohner dieses wahren Bärengrabes sich ein spärliches Mahl kochen, so sie so glücklich sind, sich dazu durch Arbeit und Betteln das nötige Material zu verschaffen.

[10.3] Notabene: Für diese herrliche Wohnung müssen diese Armen einem reichen Hausherrn monatlich 1 fl. 30 kr. Miete bezahlen und sind damit sogar noch sehr zufrieden, weil ihr Hausherr wenigstens sie nicht zu sehr betreibt, so sie den Mietzins nicht sogleich am Ersten des Monats bezahlen können, sondern ihnen sogar vierzehn Tage zuwartet. Ja ihr Hausherr ist sogar so gut, dass er ihnen wegen der Erkrankung ihres armen, siebzig Jahre alten Vaters 30 Pfund schimmeliges Roggenstroh um 20 Kreuzer hat zukommen lassen und hat auf die Bezahlung ebenfalls zehn volle Tage gewartet. Wahrlich, so ein herzensguter und geduldiger Hausherr wird doch einstens auch bei Mir, dem Herrn, auf Erbarmung und Geduld Anspruch machen können!

[10.4] Nun seht, in dieses Loches finsterstem Winkel liegt auf dem frischen 20-Kreuzer-Stroh eben unser armer Tagwerksmann. Bei einer schweren Bauarbeit fiel er vor einigen Jahren von einem schlechten Gerüst, brach sich zwei Rippen und einen Arm; wurde wohl in ein Armenspital gebracht, dort aber ärztlich ein halbes Jahr tyrannisiert und darauf, höchst schlecht geheilt, unter ärztlichem Zeugnis als Genesener entlassen.

[10.5] Von da an siech, schwach und somit zu keiner schweren Arbeit mehr fähig, behalf er sich mit seinem ebenfalls kranken und schwachen Weib und mit fünf weiblichen Kindern, darunter das älteste vierzehn Jahre zählt, durch allerlei kleine Arbeiten, die seinen Kräften angemessen waren, und manchmal auch durch irgendeine milde Spende, die entweder sein Weib oder seine Kinder dann und wann von einem seltenen weicheren Herzen erbettelten. Alter, Schwäche, Kälte und schlechte Kost, wie eine zurückgebliebene krebsartige Rippenwunde warfen ihn nun auf dieses elendeste Krankenlager, auf dem wir ihn besuchend nun sehen.

[10.6] Abgemagert wie eine ägyptische Mumie aus den Zeiten der Pharaonen, voller Schmerzen am ganzen Leib, dessen Hüfte, Steißbein und wenigstens um einen Zoll hervorragendes Rückgrat ganz wund sind von dem harten Lager, dazu noch mit dem leeren, aller Speise entblödeten Magen, – so voll brennenden Hungers spricht er mit sehr gebrochener Stimme zu seinem Weib: „Mütterchen! Hast du gar nichts mehr? Kein Stückchen Brot? Keine warme Brühe? Keine gekochten Erdäpfel? O Gott, o Gott! Wie bin ich doch gar so entsetzlich hungrig! Vor Schmerzen kann ich mich nicht mehr rühren, und dazu noch solch einen Hunger! O mein Gott, mein Gott! Erlöse mich doch einmal von dieser Qual!“

[10.7] Spricht das Weib, das vor Mattigkeit und Hunger auch kaum mehr zu stehen vermag: „O du mein armer, liebster Mann! Schon um sechs Uhr morgens sind die drei ältesten Kinder ausgegangen, bei guten, mitleidigen Menschen etwas zu erbitten, und nun ist’s schon drei Uhr nachmittags und noch kommt keines zurück. Ich zittere am ganzen Leib vor Furcht und Angst, dass ihnen etwas Übles begegnet ist. O Jesus und Maria! Wenn sie vielleicht gar ins Wasser oder in die unbarmherzigsten Hände der Polizei geraten wären? Ich zittere an Händen und Füßen! Jesus stärke mich unterdessen! Ich will mit Gottes Hilfe alle meine Kräfte zusammenraffen und gerade auf die Polizei gehen und da nachfragen, ob sie dort nicht wissen, wohin etwa doch unsere armen Kinder gekommen seien!“

[10.8] Spricht der Kranke: „Ja, ja, liebes Mutterle, gehe, gehe, – mir ist auch schon über alle Maßen bange! Aber bleibe ja nicht lange aus, und bringe mir etwas zum Essen mit, sonst sterbe ich vor Hunger! Bedenke, schon zwei volle Tage sind es, wo wir alle nichts gegessen haben! Wenn die drei armen Mädel nur etwa nicht vor Mattigkeit liegengeblieben sind? O mein Gott, o mein Gott, so muss denn alles Elend über mich kommen!“

[10.9] Das Weib geht nun fort, und als sie kaum auf die Gasse kommt, da ersieht sie auch schon einen Amtsschergen, der die drei Kinder vor sich hertreibt. Das Weib, die Mutter, solches ersehend, macht einen Schrei des Entsetzens und spricht, die Hände übers Haupt erhebend: „Gerechter Gott! O Jesus! Das sind ja meine armen Kinder!“

[10.10] Die Kinder keuchen der Mutter ganz verweint zu: „O Mutter, Mutter! Dieser wilde Mensch hat uns in einer Gasse, wo wir einen Menschen um ein Almosen für unseren sterbenskranken Vater anbettelten, abgefangen, hat uns dann in ein finsteres Zimmer eingesperrt, und weil er uns schon öfter betteln gesehen habe, so kam er dann mit noch einem abscheulicheren Menschen, der wie ein Herr ausschaute; der ließ uns dann, trotzdem wir ihn auf Knien baten, so mit Ruten hauen, dass wir am Hinterleib ganz blutig sind. Darauf fragte er uns hart, wo wir wohnten, und als wir ihm vor Schmerz kaum unsere Wohnung angeben konnten, da gebot er dann diesem wilden Menschen, der uns so schrecklich geschlagen hat, dass er uns nach Hause bringen solle. O Mutter, Mutter, das tut erschrecklich weh!“

[10.11] Die Mutter, kaum der Sprache mächtig, seufzt tief zu Mir auf, sagend: „O Herr, Du gerechtester Gott! Wenn Du lebst, wie kannst Du solche Gräuel ansehen und sie ungestraft geschehen lassen? O mein Gott, mein Gott, wie kannst Du solch ein Elend über uns kommen lassen!?“ Darauf weint sie bitterlich. Der Polizeimann aber verweist der Mutter, also auf der Straße zu räsonieren, um die Vorübergehenden auf sich aufmerksam zu machen, und gebietet ihr, sich sogleich in ihre Wohnung zurückzuziehen.

[10.12] Die Mutter entschuldigt sich als Mutter und spricht weinend: „O Herr, kann ich wohl anders als weinen? Mein siebzigjähriger, auf den Tod kranker Mann liegt überhungrig auf purem Stroh; wir alle haben durch zwei Tage nichts gegessen. Diese Spätherbstzeit ist nass und schon sehr kalt, und wir haben kein Spänchen Holz, um uns unsere kalte und feuchte Wohnung zu erwärmen. Ich selbst bin schwach und krank. Diese drei Mädchen waren unsere einzige Stütze, und diese habt ihr uns zu Krüppeln geschlagen. O Gott! Wie soll ich dazu schweigen können? Wie könnt ihr mir das gerechte Weinen verbieten? Seid ihr denn kein Mensch, kein Christ?“

[10.13] Hier will sie der Polizeimann zurückschieben; aber hinter einer Ecke springt ein herzhafter Mann hervor und schreit zum Polizeimann: „Halt Freund! Bis daher und nicht um ein Haar mehr weiter! Hier hast du arme Mutter 30 fl.; verpflege dich damit so gut als du magst. Du gefühllosester Henkersknecht entferne dich aber sogleich von dannen, sonst treibe ich ein paar Kugeln durch deinen Tigerschädel!“

[10.14] Der Polizeimann will diesen Wohltäter für seine Drohung arretieren; aber der Fremde zieht sogleich eine scharf geladene Pistole aus der Brusttasche seines Rockes und hält sie dem Schergen entgegen, der es nun freilich für rätlicher hält, sich schleunigst zu entfernen, als sich von diesem nun ganz entsetzlich ernst aussehenden Mann etwas vorschießen zu lassen.

[10.15] Nachdem der Polizeimann aus dem Gesicht ist, geht auch dieser Mann ganz still und gelassen seinen Weg weiter. Die Mutter und ihre drei Kinder werfen ihm weit ihre Dankesküsse nach. Und die Mutter der drei geschlagenen Töchter, die ob dieses Wohltäters ihren Schmerz ganz vergessen haben, eilt sogleich in die nächste Schenke und kauft Brot, etwas Wein und Fleisch. Der Kellner macht freilich eine etwas bedenkliche Miene, als er von diesem armen Gesindel eine 10 fl.-Banknote zu wechseln bekommt. Aber er denkt sich: Geld ist Geld, ob es gestohlen oder auf eine ehrliche Art erworben, wechselt der Armen die Banknote und verabreicht ihr das Verlangte.

[10.16] Damit nach Hause eilend, finden sie den armen Mann weinend vor Schmerz und Hunger. Die Mutter gibt ihm sogleich etwas Brot und Wein, und die älteste Tochter springt sogleich zum nächsten Kreisler [Händler] und kauft um ein paar Groschen Holz, Feuerzeug und auch ein halbes Pfund Kerzen.

[10.17] Als sie damit nach Hause kommt, da findet sie zu ihrem Entsetzen zwei Polizeischergen vor der Tür des Armen, die nun eiligst zurückgekehrt sind, den wohltätigen Mann entweder noch hier zu treffen oder, im entgegengesetzten Falle, sich bei dem armen Weib möglicherweise von dem Stand und der Wohnung dieses Mannes in Kenntnis zu setzen. Und würde das Weib nicht Rede und Antwort geben, so solle sie arretiert werden.

[10.18] Mit diesem löblichen Vorhaben, vom Polizeiamt dahin beordert, treten sie mit dem armen Mädchen in die finstere Stube, sogleich ein Licht verlangend und das Weib bedrohend, über jenen Mann alle Auskunft zu geben, widrigenfalls sie mit ihnen auf das Polizeiamt gehen müsse. Das arme Weib, solches vernehmend, sinkt vor Angst zusammen. Die älteste Tochter, bebend vor Angst, macht das verlangte Licht, und die zwei Schergen, den Kranken auf dem Boden nahe ganz nackt, nur mit dürftigen Lumpen teilweise bedeckt ersehend, schaudern anfangs wohl etwas zurück, ermannen sich aber bald und fragen das halbtote Weib um des bewussten Mannes Stand und Wohnort.

[10.19] Das Weib bebt und ist keiner Antwort fähig. Die beiden Schergen halten diesen Zustand für Tücke und reißen das Weib vom Boden und wollen es sogleich einführen. Der kranke Mann und die fünf Kinder bitten um Gnade und Erbarmung, aber die beiden handeln stumm ihr schönes Amt.

[10.20] Aber im Augenblick, als die zwei Schergen das Weib schon an der Türschwelle halten, kommt unser Mann mit noch drei kräftigen Gehilfen, entwinden zuerst das vor Angst halbtote Weib den Händen dieser zwei Schergen und hauen sie ganz weich durch, so dass sie kaum gehen können, und bedrohen sie, wie das ganze Amt darauf, sagend: „Im Namen Gottes! So ihr elenden Bestien es noch einmal wagt, diese heilige Stätte zu betreten, in der Gottes Engel wohnen, da erwartet von uns die fürchterlichste Rache! Wir sind nicht Menschen und Wesen dieser Welt, sondern wir sind Schutzgeister dieser Engel, die hier die Probe des Fleisches durchmachen.“

[10.21] Darauf verschwinden die vier Helfer. Die zwei Schergen aber ziehen auch ganz nüchtern von dannen, um nicht wiederzukommen.

[10.22] Das Weib erholt sich darauf bald und sorgt nun – Mir für die Rettung dankend –, dass der dem Ende nahe Mann eine warme Suppe bekomme. Die Suppe ist bald fertig und wird nun dem Alten unter tausend Segnungen dargereicht, der sie, Mir und den Seinen dankend, mit großem Appetit verzehrt.

[10.23] Dadurch etwas mehr gestärkt, spricht er zum Weib und zu seinen Kindern: „Du, mein teures Weib, und ihr, meine geliebtesten Kinder, ihr habt um meinetwegen viel ausgestanden. Aber ihr habt euch dabei auch sichtbar überzeugt, dass des Herrn Hand für euch stritt und trieb eure Feinde wie einen schlechten Spukgeist von dannen. Vertraut also fortan auf den Herrn; Er wird euch dann am nächsten sein, wenn eure Not am höchsten sein wird. Vergebt allen, die gegen uns und besonders euch hart waren; sie sind maschinenmäßige Werkzeuge einer blinden, herrschsüchtigen Polizeiamtsherrschaft und tun, ohne zu forschen und zu wissen, was sie tun. Der Herr allein soll ihr Richter sein!

[10.24] Ertragt euer Kreuz mit Geduld und sucht nie ein Glück dieser Welt; denn Glückskinder dieser Welt sind keine Gotteskinder, oder doch selten. Was herrlich ist in dieser Welt, das ist vor Gott ein Gräuel! Fürchtet euch vor nichts so sehr wie vor dem Weltglück, denn dieses ist zumeist das größte Unglück für den Geist.

[10.25] Seht, was hätte oder was möchte es mir genützt haben, so ich einer der reichsten Erdenbürger wäre? Nun am Rande meiner irdischen Laufbahn hätte ich nichts als den sicheren ewigen Tod vor mir. Aber wie ganz anders steht es nun mit mir! Der Tod hat seine Schrecken vollends ausgezogen; für mich gibt es keinen Tod mehr! Schon bin ich erlöst von all meinen irdischen Leiden, und vor mir steht schon weit geöffnet die herrliche Pforte in das Reich Gottes!

[10.26] Seht, mein Leib, dieser abgenützte Sattel der Seele zur Tragung des Gotteskreuzes, liegt nun schon kalt und tot auf dem harten Strohlager. Aber ich, Seele und Geist, der ich diesen nun toten, von mir abgefallenen Leib siebzig Jahre lang bewohnte, bin nun frei, lebe schon ein ewiges Leben und habe des Leibes Tod weder gesehen noch gefühlt; denn in einem mir kaum bewussten wunderbaren Augenblick bin ich von meiner beschwerlichen Last freigemacht worden. Befühlt den Leib und überzeugt euch, dass er schon völlig tot ist. (Das Weib und die Kinder befühlen den Leib und finden ihn kalt und hart und tot.) Und seht, ich lebe dennoch und rede mit euch, und viel vollkommener, als ich je geredet habe.

[10.27] Der Grund von dem aber ist, weil ich stets an Jesus, den Gekreuzigten glaubte, und handelte so viel es mir möglich war nach Seinen Geboten. Wie Er aber gelehrt hat im Tempel, dass nämlich die den Tod nicht sehen und schmecken werden, die Sein Wort annehmen und danach leben, so hat sich das an mir nun auch als ewig wahr bestätigt, denn ich habe den Leib abgelegt, ohne gefühlt zu haben, wie und wann.

[10.28] Kein Vermögen hinterließ ich euch, meine große irdische Armut ist euer aller Erbe! Aber freut euch darob! Wüssten die blinden Reichen der Erde, welch ein Reichtum für den Geist die irdische Armut ist, sie flöhen die Geldsäcke wie die Pest! Aber ihre große Blindheit hält das für einen Gewinn, was sie für ewig tötet. So lassen wir sie denn auch wandeln den Weg des Verderbens. Wollt ihr aber am Ende eurer irdischen Reise auch so glücklich sein, wie ich es nun bin, so flieht das Weltglück und sucht es nimmer!

[10.29] Glaubt es mir nun, dass ich nun schon vom Jenseits herüber mit euch rede und also sage: Je größer jemandes Kreuz ist und je schwerer zu tragen, desto leichter und unfühlbarer wird sein Übertritt von dieser Welt der Materie in die des Geistes sein. Denn alles, was Christo nachfolgt, muss den Weg des Kreuzes wandeln. Alles Fleisch muss mit Christo gekreuzigt werden und in Ihm sterben, ansonst es ewig zu keiner Erweckung und Auferstehung in Ihm und durch Ihn gelangen kann.

[10.30] Durch Armut, Not und andere Lebensbeschwernisse aber wird das Fleisch schon in Christo gekreuzigt und getötet; daher wird denn auch ein jeder, der so lebt, wie wir gelebt haben und ihr noch lebt, da, wo die Reichen am Ende ihres Erdenglücks ganz eigentlich sterben, – erweckt und wird am scheinbaren Sterbelager die schon volle Auferstehung zum ewigen Leben ernten! Denn der in den Willen des Herrn ergebene Arme stirbt beständig, und wann seine Zeit vollendet ist, da ist er auch schon mit allem Tod fertig und kann daher nicht mehr sterben, sondern nur auferstehen in Christo. Aber ganz anders ist es bei jenem Menschen, der in einem fort seinen Gelüsten gelebt hat. Solcher Mensch stirbt am Ziel seines Fleisches wirklich und vollkommen und kann jenseits nur schwer – aber auch wohl gar nicht und nimmer – erweckt werden.

[10.31] Das alles behaltet in euren Herzen und seid voll Freude, so euch die Welt verachtet und euch mit schimpflichen Namen belegt und euch verfolgt mit allerlei Waffen ihres argen Herzens. Denn der Herr beachtet die Argen allzeit und kennt ihre Pläne. Ich sage euch: Wenn ihr erstehen werdet, da wird sie zugrunde gehen. Darum sucht vor allem nur das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit; alles andere wird euch umsonst hinzugegeben werden.

[10.32] Freut euch daher nie über die Reichen dieser Welt, sondern bedauert sie vielmehr; denn sie alle sind überarm im Geiste. Aber desto mehr freut euch derjenigen, die wie ihr in allerlei Kreuz und Nöten sich befinden! Denn solche sterben täglich in Christo, um dann am Ende nicht mehr zu sterben, sondern aufzustehen zum ewigen Leben in Christo.

[10.33] Diese meine letzten Worte auf dieser Welt seien euer größter Reichtum, den ich euch hinterlasse; von diesem Erbe werdet ihr keine Steuern zu entrichten haben. Diesen meinen Leib schafft bald aus der Kammer, denn er ist vollkommen tot. Macht aber ja keine Zeremonien dabei, denn alle solche Zeremonien sind vor Gott ein Gräuel. Also dürft ihr auch keine Messe zahlen; denn Gott dem Herrn ekelt es vor einem bezahlten Gebet. Alles aber, was ihr tut, das sei ein lebendiges Lob dem Herrn, darum Er mir eine so große Gnade erwiesen hat. Ihm allein sei alle Ehre, alles Lob und alle unsere Liebe ewig. Amen.“

[10.34] Mit diesen Worten verstummt er für diese Welt und ist schon früher dem Leibe nach vollkommen tot.

[10.35] Alsogleich ersieht er neben sich drei überaus freundliche Männer in weißer Faltenkleidung stehen, die ihn gar lieblich begrüßen und ihm die Hände zum ewigen Bruderbund reichen. Gern und selig und aller irdischen Leiden vergessend reicht er ihnen auch die seinigen hin, sich noch über seinem irdischen Leib befindlich wie aufrecht sitzend und sagend: „O ihr lieben, mir noch völlig unbekannten Freunde des Herrn Jesu Christi, was ihr sicher seid! Volle sieben Dezennien, die ich über der harten Erde verlebte, habe ich wohl – irdisch genommen – wenig gute, aber dafür desto mehr kummervolle Tage verlebt, und die letzten waren wohl die bittersten, in diesen regnete es nur Schmerzen und tiefste Not über meine arme sündige Haut. Aber dem Herrn sei alles aufgeopfert und Ihm allein alles Lob und alle meine Liebe ewig dafür! Denn obschon ich wahrlich viel gelitten habe, so hat es dennoch nie an zeitweiligen Tröstungen gemangelt, die mich wieder im Herzen ganz aufgerichtet und all die körperlich tödlich-bittersten, grässlichen Schmerzen und Wunden des Leibes im Namen des Herrn verachten gelehrt haben. Und nun habe ich mit der großen Gnade, Hilfe und Erbarmung Gottes, des Herrn Jesu Christi, alles überstanden und erwarte eben in der Geduld, die mir oft auf Erden alle Leiden milderte, was des Herrn heiligster Wille über mich verfügen wird. Ihm allein sei alle meine Liebe und meine Anbetung gereicht. Sein allein heiliger Wille geschehe!“

[10.36] Spricht einer der drei weißen Männer: „Lieber Freund, was würdest du aber tun, so dich der Herr um Seiner großen Heiligkeit willen und deiner lässlichen Sünden wegen – und das nach deinem Glaubensbekenntnis – ins Fegfeuer so auf etwa eine unbestimmte Zeit beheißen würde, wo du übergroße Schmerzen leiden müsstest? Könntest du auch da noch unter den größten Feuerschmerzen den Herrn loben und preisen? Und könntest du Ihn noch lieben?“

[10.37] Spricht der Arme: „O du lieber Freund! Des Herrn endlose Heiligkeit fordert wohl die größte Reinheit jeder Seele, die Seiner Anschauung würdig werden soll, aber Seine ebenso unendliche Weisheit und Güte weiß es ja auch, wie viel Schmerz eine arme Seele ertragen kann, und wird sie daher nicht überbürden. Fordert aber alle Gerechtigkeit Seiner unendlichen Heiligkeit wegen solches von mir, so geschehe auch da Sein heiliger Wille; ich ersehe auch darin noch Seine große Liebe, die nur darum solche Reinigung der Seele verordnet, damit diese würdig werden möchte, zur Anschauung Gottes aufgenommen werden zu können.

[10.38] Ich sage dir, der Herr ist allzeit die reinste Liebe, somit endlos gut, und alles, was Er tut, ist gut. Daher geschehe nun ganz allein Sein allerheiligster Wille! Denn so ich auch um Schonung und Erbarmung flehen würde, so wäre das sicher nie so gut für mich, als was des Herrn höchste Weisheit und Liebe über mich verordnet und bestimmt. Darum sage ich ein für alle ewigen Male: Gelobt sei der Herr Jesus Christus, der da als einiger Herr-Gott mit dem Vater und heiligen Geist herrscht und regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit! Sein allerheiligster Name werde gepriesen, und Sein heiligster Wille geschehe! Amen!“

[10.39] Spricht der Weiße: „Da hast du nun vollkommen recht und wahr gesprochen. Aber bedenke, dass du ohne Beichte und Kommunion gestorben bist, und könnte es da nicht leicht sein, dass, so du nun vor Christi Richterstuhl hintreten musst, eine Todsünde an dir gefunden würde und du im Stand der Ungnade – nach der Lehre deiner Kirche – in die Hölle auf ewig fahren müsstest? Wie würdest du da den Herrn loben und preisen?“

[10.40] Spricht der Arme: „Freunde, was ich tun konnte, das habe ich sicher getan. Dass ich am Ende nicht beichten konnte, war ja nicht meine Schuld. Und vor drei Wochen habe ich ohnehin gebeichtet, wo mir der Beichtvater versicherte, dass ich nun lange nicht mehr der Beichte bedürfe. O Freunde, so ich aber dennoch eine mir unbewusste Todsünde an mir haben sollte, da bittet ihr den Herrn für mich armen Sünder, dass Er mir gnädig und barmherzig sein möchte; denn in die Hölle zu kommen auf ein leidenvolles irdisches Leben, wäre wohl das Allerschrecklichste! O Herr, Dein Wille geschehe wohl, aber sei mir armen sündigen Seele dennoch gnädig und barmherzig!“

[10.41] Spricht der weiße Mann wieder: „Ja – lieber Freund, mit unserer Fürbitte, im Falle du eine Todsünde an dir hättest, würde sich’s vielleicht doch nicht tun. Denn du weißt es ja aus der Lehre deiner Kirche, dass bei Gott nach dem Tod kein Erbarmen stattfinden kann wegen Seiner allervollkommenst strengsten und unwandelbarsten Gerechtigkeit. Zudem hast du auf der Welt aber ja ohnehin nie auf die Fürbitte der Heiligen, sowie auf das Messopfer stets wenig und am Ende sozusagen gar nichts mehr gehalten, wodurch du gegen deine Kirche ohne alle Widerrede als Ketzer dich benommen hast und in ihrem Angesicht zu einem größten Sünder wurdest. Wenn wir da nun auch bei Gott bitten würden, meinst du wohl, dass dir unsere Fürbitte etwas nützen möchte? Warum hast du denn auf die Litaneien der Kirchen und auf ihre Seelenmessen – deinem eigenen letzten Bekenntnis nach – nichts gehalten, da du deinen Hinterlassenen die Lehre gabst, dass vor Gott bezahlte Gebete ein Gräuel sind, darum sie für dich keine Messe zahlen sollen? Da sich aber dies alles bei dir doch so verhält, wie sollen wir für dich bei Gott bitten? Was meinst du nun in dieser Hinsicht? Wird oder kann dir das wohl etwas nützen bei Gott?“

[10.42] Spricht der Arme voll Geist und tiefer Fassung: „Freunde, wer ihr auch sein mögt, das ist mir gleich; mehr als Gottes Geschöpfe seid ihr nicht, und das – Gott dem Herrn ewig Dank und Liebe! – bin auch ich und glaube, mit euch ebenso frei reden zu dürfen, wie ihr mit mir redet.

[10.43] Ich war auf der Welt wohl sehr arm und elend; aber ich konnte lesen, etwas schreiben und ziemlich gut rechnen. Sonn- und Feiertage habe ich meistens mit dem aufmerksamsten Lesen und Betrachten der Heiligen Schrift zugebracht. Je mehr ich mich darin zurechtfand, desto klarer wurde es mir, dass die römisch-katholische Kirche gerade das schroffste Gegenteil von dem tut und getan haben will, was Christus und die Apostel laut den vier Evangelien und Briefen der Apostel gelehrt und selbst getan haben. In einem Brief des Apostels Paulus fand ich sogar die Donnerstelle: ‚Und so ein Engel aus dem Himmel käme und lehrte euch ein anderes Evangelium, als das ich euch verkünde, nämlich das von Jesu dem Gekreuzigten, der sei verflucht!‘ (Gal. 1,8)

[10.44] Diese Sentenz fuhr mir wie tausend Blitze durch die ganze Seele, und ich dachte und fragte mich: Wie steht es denn bei sogestalteten Worten des Apostels mit der Lehre Roms, die das Wort Gottes nicht nur nicht lehrt und es allen Laien verbietet zu lesen, sondern lehrt ganz andere Dinge, die ganz dem finsteren Heidentum gleichen? Wem soll ich nun glauben?

[10.45] Eine innerste Stimme sprach nahe ganz laut zu mir: ‚Glaube dem Wort Gottes!‘ Und ich tat, wie die innere Stimme es ausgesprochen hatte.

[10.46] Mir wurde von Tag zu Tag klarer, dass ich recht tat, dass die Lehre Christi reines und allein wahrstes Wort Gottes ist, in der allein alles Heil und das ewige Leben zu suchen und zu finden ist.

[10.47] Gott aber ist unveränderlich. Wie Er war, so wird Er auch bleiben der eine endlos vollkommenste ewige Geist der reinsten Liebe. Wie könnte Er die Kirche in Rom gegründet haben, die nichts als Hass und Verfolgung, Verderben, Tod und Hölle predigt? ‚Nein, ewig nein!‘, sprach es in mir, ‚wer da richtet und verdammt seine Brüder, der ist selbst gerichtet und verdammt; also richte und verdamme denn auch du niemanden, so wirst du auch nicht gerichtet werden!‘ So vernahm ich‘s, und so handelte ich auch. Wohl sah ich stets heller, wie Roms Pfaffen mit dem Herrn im Geiste es noch tausendmal ärger trieben als jene, die Ihn einst wirklich dem Leibe nach kreuzigten; aber ich richtete sie dennoch nie, sondern sprach allzeit in meinem Herzen: Herr, vergib ihnen, denn sie alle sind stockblind und wissen nicht, was sie tun!

[10.48] Ich sah und begriff des Herrn endlose Liebe stets mehr und mehr. Daher wuchs aber auch meine Liebe so mächtig in mir zu Ihm, dass alle meine irdischen Leiden sie nicht im Geringsten zu schmälern vermochten, sondern stärkten sie nur stets mehr und mehr! Und so sage ich euch nun ganz frei und unverhohlen: Christus ist meine Liebe und mein Leben auch in der Hölle, wenn ich schon von euch aus dahin verdammt sein soll; auch die Hölle wird Ihn mir nimmer rauben können.

[10.49] Wohl weiß ich, dass ich vor Gott als ein unwürdigster Sünder dastehe, und bin nicht würdig, meine Augen dahin zu erheben, wo Er, der Allerheiligste, wohnt! Aber sagt es mir, wo in der weiten Unendlichkeit Gottes wohnt wohl ein Engel oder ein Mensch, der da sein könnte gleich dem Herrn! Wer aus euch kann mich einer Sünde zeihen? Wahrlich, es ist mir seliger zu sagen: ‚Herr, ich bin der Allerunwürdigste!‘ als: ‚Ich bin Deiner Gnade der Würdigste!‘ Ich wie auch sicher ihr können nur sagen – und so wir auch alles getan hätten, was Er zu tun uns geboten hat –: ‚Herr, wir alle sind Deine unnützen Knechte gewesen und haben uns durch nichts Deiner Gnade würdig gemacht. O Herr und Vater, sei uns daher Deines alleinigen endlosen Verdienstes um uns Unwürdigste wegen gnädig und barmherzig!‘

[10.50] Dies zu sagen und zu bitten haben wir allein das Recht; alles was darüber ist, das halte ich für eine eigentlichste Todsünde, zeitlich wie ewig. Nun werdet ihr hoffentlich begreifen, warum ich auf die Litanei und auf die bezahlten Gebete nichts gehalten habe. Aber für eine wahre Fürbitte nach der Wahrheit und Liebe des Herzens von Seiten eines Bruders für den anderen war ich allzeit eingenommen und bat also aus dem Grunde euch darum. Ihr aber könnt tun, was ihr wollt. In allem aber geschehe des Herrn heiligster Wille ewig!“

[10.51] Spricht derselbe Weiße wieder (innerlich ganz entzückt über diesen neuen herrlichen Bruder): „Lieber Bruder, wir sehen deinen wahren Ernst, Mut und Eifer um den Herrn, der wahrlich wie ein Fels dasteht. Aber frage dein Herz, ob du dich auch vor dem Angesicht des Herrn also zu reden getrauen würdest?“

[10.52] Spricht der Arme: „Da könnte nur meine übergroße Liebe zu Ihm mir wohl die Zunge, aber nie meinen Mut lähmen. Und wahrlich, es gehört gar nicht viel Mut dazu, zu bekennen vor Gott Selbst, dass man allerwahrst vor Ihm sich als ein nutzlosester und somit Seiner Gnade und Erbarmung bedürftigster Knecht anpreist. O ich habe Christus noch nie im eigentlichen Sinne gefürchtet; denn Ich liebte Ihn zu sehr, als dass ich mich vor Ihm hätte fürchten können. Nun sagt mir, ob ich noch lange hier verbleiben werde oder nicht. Ich möchte wohl schon recht sehr bestimmt wissen, wohin ich mich werde zu begeben haben!

[10.53] Spricht der weiße Mann: „Nur noch eine kleine Geduld, wir müssen nur noch jemanden deinetwegen erwarten. Sobald der ankommen wird, vom Herrn dein Urteil überbringend, dann wirst du sogleich dieser Stelle enthoben werden und wirst dahin ziehen, wohin es der Wille Gottes bestimmen wird. Siehe, dort vom Morgen her kommt er schon; bald wird er hier sein! Hast du keine Furcht vor ihm, der da kommt im Namen des Herrn?“

[10.54] Spricht der Arme: „O nein! So ich den Herrn Selbst über alles liebe, wie soll ich den fürchten, den Er zu mir sendet?“

[10.55] Spricht der weiße Mann: „Weißt du, lieber Bruder, aber, dass selbst der Gerechteste des Tages siebenmal sündigt, ohne zu wissen, dass er sündigt? Wenn du nun alle Tage zusammenzählst, von deinen zurechnungsfähigen Jahren angefangen, und sie mit sieben vervielfältigst, da dürfte doch eine ganz bedeutende Menge von Todsünden zusammenkommen, besonders angenommen, dass – nach Ignatius von Loyola – vier kleine auch eine große ausmachen! Und wenn der Bote mit einer solchen Rechnung zuwege käme, würdest du dich auch dann nicht fürchten vor dem Boten des Herrn?“

[10.56] Spricht der gewesene arme Mann: „Nein, und noch einmal gesagt: durchaus nein! Ich muss euch, meine lieben Freunde, offen gestehen, dass es mich geradewegs freuen würde, als ein recht großer Sünder befunden zu werden, denn mich erhebt die Sünde nicht, sondern sie demütigt mich, und das ist gut und recht. Ich habe das gar oft auf der Welt empfunden, so ich eine freilich kurze Zeit mir öfter keiner Sünde bewusst war, was bei mir besonders nach einer Beichte der Fall war, in solch einem Zustand war ich bei mir selbst ganz hochmütig aus purer sittlicher vermeinter Unbescholtenheit und sagte heimlich bei mir, so ich irgendeinem rechten Lumpen von einem Menschen begegnete: Gottlob, dass ich nicht so bin wie dieser, Gottes und jedes Menschenrechtes vergessende Kerl!

[10.57] Aber wenn ich bald darauf selbst wieder in irgendeine Sünde verfiel, da dachte ich denn in aller Zerknirschung meines Herzens, so mir ein anderer Sünder unterkam: Schau diesen, den du für einen schlechten Kerl hältst, ist vielleicht bei Gott bei weitem reiner als du. Daher sei Du, o Gott, mir armem Sünder gnädig und barmherzig! Denn ich fühle mich nun nicht einmal würdig, meine Augen zu Deinen Himmeln zu erheben! – Und das, Freunde, war sicher besser gedacht und eines allseitigen Sünders würdiger, als zu denken und bei sich zu sagen: Herr! Ich bin ein Reiner und habe alle Gesetze beobachtet von Kindheit an, daher ich denn auch mit vollem Recht von Dir die verheißene Belohnung erwarte!

[10.58] Freunde, ich weiß aber, dass ich vor Gott ein sündiger Mensch bin. Daher bin ich auch nur demütig und erhoffe von Ihm nichts von irgendeinem Verdienst, sondern alles von Seiner alleinigen Gnade und Erbarmung.

[10.59] Ich weiß auch wirklich nicht, was sich Geschöpfe vor dem allmächtigen Gott, der allein alles vermag und unserer Hilfe noch nie benötigt hat, für so lohnswerte Verdienste hätten sammeln können?! Haben sie etwa Gott, dem Herrn, Himmel und Erde erschaffen helfen oder die Erlösung vollbringen? Oder hat etwa jemand dadurch Gott, dem Alleinheiligen, etwas genützt, so er zu seinem eigenen Besten die vom Herrn gegebenen Gesetze mehr oder weniger beobachtet hat? Ich meine, Gott wäre ohne uns ebenso vollkommen Gott, wie Er nun ist, da wir doch nur bestimmt sind, in uns aufzunehmen Seine endlose Gnade, Erbarmung und Liebe, und nicht, Ihm etwa sonstige, ewig unbenötigte Dienste zu leisten.

[10.60] Seht, so habe ich allzeit gedacht, denke nun auch so und werde auch ewig also denken, vorausgesetzt, dass mir ein ewiges Dasein fortan zuteilwird! Aus diesem Grunde sehe ich auch nicht ein, warum ich mich vor dem Boten des Herrn fürchten soll, weil ich doch keinen Grund finden kann, mich vor dem Herrn Selbst zu fürchten. Ja, ich fürchte wohl auch den Herrn, aber nicht wie ein Verbrecher, sondern als ein Liebender, der sich viel zu sündig und unwürdig fühlt, den Herrn mit seinem unreinen Herzen zu lieben nach all seiner Lebenskraft! Was meint ihr lieben Freunde, habe ich recht oder nicht?“

[10.61] Spricht der Weiße: „Wir sehen es nun ganz klar ein, dass du dich von uns nimmer willst bekehren lassen; deshalb wollen wir dir auch keine weitere Ungelegenheit mehr machen, und lassen alles dem hier Kommenden über. Siehe, er ist schon da!“

[10.62] Der Bote tritt sogleich überfreundlichen Angesichts zum armen Mann hin, reicht ihm freundlichst die Hand und spricht: „Erhebe dich, lieber Bruder, über deine sterblichen Reste und erstehe zum ewigen Leben in deinem Gott und Herrn, den du in Jesu Christo stets so innig geliebt hast!“

[10.63] Der Arme erhebt sich nun sogleich wie vollkommen frei und mit großer Kraft und Stärke erfüllt und spricht zum Boten, der sehr einfach und schlicht aussieht: „Erhabener Gesandter des allmächtigen und großen Gottes! Ein unbegreifliches Wonnegefühl durchzuckte mein ganzes Wesen, als du mir die Hand reichtest; das gilt mir auch als ein sicherster Beweis, dass du wahrhaft ein Bote vom Allerhöchsten an mich armen Sünder gesandt bist. Da du das nicht nur nach der Vorsage dieser drei Brüder, die mir eine große Angst und Furcht vor dir eintreiben wollten, sondern auch nach meinem nunmaligen eigenen untrüglichen Gefühl wahrhaft bist, o so sage es mir nun gütigst, was ich von dem allergerechtesten Richterstuhl Gottes zu erwarten habe? Verdienste habe ich wohl keine, wie ich auch ewig keine haben werde; aber da ich es fühle, dass ich vor Gott sicher ein grober und großer Sünder bin, so sage es mir, ob ich Gnade und Erbarmung hoffen darf?“

[10.64] Spricht der Bote: „Lieber Bruder, wie kannst du nun solches sagen, dein Herz ist voll von Liebe zum Herrn, das ist ja schon der Herr Jesus, der allein Gott ist von Ewigkeit zu Ewigkeit, in dir! Wer aber Jesus im Herzen hat, wie sollte der danach fragen, ob er Gnade und Erbarmung von Ihm erhoffen darf? Ich sage dir: Du bist nun schon selig und wirst ewig von keinem Gericht etwas an dir zu gewahren haben. Komme nun mit mir vor deinen Gott, vor deinen liebevollsten heiligen Vater und empfange dort, was allen denen in aller Fülle bereitet ist, die Ihn wie du in aller Wahrheit über alles lieben!“

[10.65] Spricht der Arme: „O erhabener Bote Gottes! Vergib es mir, dahin kann ich dir nicht folgen! Denn solcher Gnaden bin ich ewig nicht wert! Bringe mich aber so wohin, in ein ruhiges Örtel [Örtchen], wo so meinesgleichen verdienstlose, allergeringste Selige wohnen mit der Hoffnung, den Herrn Jesus nur alle irdischen hundert Jahre einmal von ferne zu Gesicht zu bekommen, und ich werde da so selig sein wie die allerreinsten Engel! Auch könnte ich es gar nicht aushalten, so der Herr Jesus mir zu nahe käme; denn meine zu große und mächtige Liebe zu Ihm würde mich ja ganz zerreißen, so ich zu Ihm käme! Daher tue mir das, um das ich dich aus der gegründetsten Zerknirschung des Herzens gebeten habe.“

[10.66] Spricht der Bote: „Mein teuerster Bruder, das kann nicht sein; siehe, der Herr will es also! Wenn ich es aber in der allernächsten Nähe des Herrn aushalten kann, da wirst du es schon auch können. Daher komme nur mit mir und scheue dich nicht im Geringsten! Ich sage dir, wir beide werden uns vor dem Herrn schon zurechtfinden.“

[10.67] Spricht der Arme: „Ja nun, in Gottes Namen, wenn du es also meinst, da will ich es freilich also wagen! Aber sage mir, warum sehen uns beide nun diese drei weißgekleideten Brüder gar so bis in ihr Innerstes ergriffen und entzückt an? Sehen die schon irgendwo den Herrn?“

[10.68] Spricht der Bote: „Kann wohl sein; aber sie haben auch heimlich eine übergroße Freude über dich, wie über jeden, der mit solcher Liebe wie du hierher kommt. Siehe dort gegen Morgen, wo sich ein sanftes Gebirge erhebt, über das ein herrliches Morgenrot leuchtet, dort hinüber geht unser Weg, den wir gar leicht und recht bald werden zurückgelegt haben. Von jener Höhe wirst du dann sogleich das neue Jerusalem, die ewige Stadt Gottes, vor dir schauen, in der du wohnen wirst ewiglich!“

[10.69] Spricht der Arme: „Ah, Bruder, wie herrlich, wie rein göttlich strahlt doch dies herrliche Morgenlicht, welch herrliches Gewölk! Und nur die herrlichen Matten und Bäumchen! O du, du unbegreiflich schöne Himmelswelt! Was sind dagegen alle Herrlichkeiten der Erde? Aber ich sehe nun ja auch große Scharen uns entgegenziehen und vernehme auch überhimmlisch herrliche Lieder! O welch eine Harmonie! Wer kann ihren unermesslichen Wohlklang ermessen!? Wie mächtig doch glänzen sie, die uns entgegenziehen! Wie werde ich mich in dieser meiner sehr irdisch aussehenden Kleidung unter ihnen ausnehmen?!

[10.70] O Gott, o Gott, es ist wahrlich kaum mehr auszuhalten! Siehe, siehe, sie kommen uns schon ganz nahe, und nun, nun – was ist denn das? Sie fallen ja wie vor uns nieder auf ihre Knie und Angesichter und scheinen ganz zerknirscht zu sein!? Vielleicht kommt schon etwa gar der Herr Selbst irgendwo von rückwärts her zu dieser Schar? O sage mir doch, was das zu bedeuten hat!“

[10.71] Spricht der Bote: „Es wird wohl so etwas sein. Wir werden es sogleich selbst sehen, was da ist. Nur noch eine kleine Geduld, in wenigen Schritten sind wir oben und werden sehen, was es da gibt.“

[10.72] Spricht der Arme: „O du mein erhabenster Freund, es wird mir ganz absonderlich zumute! Denke dir’s nur, wie es unsereins gehen kann und wie zumute sein – den Herrn Himmels und der Erden, den Herrn über Leben und über allen Tod zum ersten Mal zu sehen! O Freund, ich bebe vor Furcht und vor Sehnsucht und vor freudig banger Erwartung der Dinge, die da uns entgegenkommen werden. Wahrlich, nur wenige Schritte mehr und die Höhe ist erreicht. Ah, ah, was werde ich alles schauen!

[10.73] O Freund, fürchtest du dich denn nicht vor Gott, wenn Er vielleicht öfter dir irgendwo entgegenkommt bei ähnlichen Gelegenheiten? Ist das dir schon zur Gewohnheit geworden, dass du dir daraus eben nicht viel machst, so dir solche Dinge vorkommen? Und doch merke ich es an diesen Scharen, wie auch an den drei uns nachfolgenden Brüdern, dass sie nicht minder als ich ergriffen sind, und du bist so ganz gleichgültig und hast eine Miene, als wenn alles, was hier vorgeht, etwas ganz Unbedeutendes wäre. O sage mir, wie denn das zu fassen ist und wie zu nehmen? Soll ich, was mir rein unmöglich wäre, mich etwa auch so wie du verhalten?“

[10.74] Spricht der Bote: „Mein liebster Bruder, du wirst es bald einsehen, warum ich mich vor Gott nicht fürchte, und warum ich nicht also tue wie unsere drei Begleiter, nicht wie du und auch nicht wie diese Scharen. Es ist aber auch besser, so du dich nun so benimmst, wie ich mich benehme; denn du wirst dich bald selbst überzeugen, dass deine Furcht rein eitel ist. Denn ich sage dir, der Herr verlangt das alles nicht; aber so die Kinder vor dem Vater also ihre innigste Liebe und Demut bezeugen, so fehlen sie gerade auch nicht.

[10.75] Aber ich weiß es, dass du ehedem gegenüber den dreien, die dich zuerst begrüßten, ganz furchtlos und unerschrocken warst, was mir sehr gefiel, obschon sie sehr bemüht waren, dir einige Furcht einzujagen. Wie ist es denn, dass du nun so furchtsam wirst?“

[10.76] Spricht der Arme: „Ja, da hatte ich noch keine Ahnung von solch endlosester Erhabenheit Gottes und Seiner heiligen Himmel; aber nun habe ich es vor Augen, was ich mir ehedem kaum zu denken getraute. Da ist es nun aber auch ganz anders. Wie muss doch Gott aussehen, dass diese gar so sehr niederschaudern, sicher vor übergroßer heiliger Ehrfurcht vor Gott, dem Unendlichen, vor Gott, dem Allmächtigen! Wird mein doch sehr blödes und lichtungewohntes Auge Gottes Angesicht wohl zu schauen imstande sein?!“

[10.77] Spricht der Bote: „Nun ja, liebster Bruder, es wird sich alles machen. Bist du bisher nicht blind geworden, so wird es sich fürderhin auch machen. Sei nun nur ruhig; siehe, wir sind nun schon auf der Höhe, und dort wie am Horizont, über dem du jene Sonne Gottes erschaust, deren Licht alle Himmel und aller Menschen und Engel Herzen erleuchtet, ersiehst du auch schon die heilige Stadt Gottes, in der du, und zwar bei Mir, ewig wohnen wirst. Gehen wir nun nur recht hurtig darauf los, und wir werden bald dort sein.“

[10.78] Der arme Mann macht nun große Augen und weiß sich vor Verwunderung kaum zu helfen; nur begreift er noch nicht, warum er hier noch keinen Grund erschaut, aus dem die Scharen gar so zerknirscht sich erheben und uns nun nebst den dreien nachfolgen und in einem fort die herrlichsten Psalmen zu Gottes Ehre in der allerwohlklingendsten Weise singen.

[10.79] Nach einer Weile stummer, seligster Betrachtung dieser Himmelsgegend, die mit nichts Irdischem zu vergleichen ist, fragt er wieder, sagend: „O liebster Freund und Bruder! Sage mir doch, wo sehen denn die uns Nachfolgenden Gott den Herrn, da sie doch geradeso singen, als wäre Er mitten unter ihnen? Ich schaue links und rechts, vor- und rückwärts, aber ich kann nichts erschauen, das mich an Gott gemahnen möchte. Sind denn meine Augen noch zu blöde oder noch unwürdig, das allerheiligste Antlitz Gottes zu schauen? Wahrscheinlich wird wohl für ewig das Letztere der Fall sein. Im Grunde ist’s mir aber auch lieber, aufrichtig gesagt; denn ich fühle es, und Gott wird es am besten wissen und sehen, dass ich Sein heiligstes Antlitz nicht ertragen würde. O ich bin schon überselig, dass ich all das Himmlische an deiner Seite ersehe; ich aber möchte Ihn doch sehen, Ihn, den ich so mächtigst liebe; aber freilich nur hauptsächlich, in der Wahrheit gesprochen, in der Person des Herrn Jesu Christi. O wenn ich nur einmal den lieben, liebsten, ja den allerliebsten Herrn Jesus sehen könnte, da wäre ich schon der allerseligste und allerglücklichste Mensch aller Himmel!“

[10.80] Spricht der Bote: „Ich sage dir, sei nur ruhig; du wirst dich bald überzeugen, dass du Jesus eher sehen wirst, als du es dir denkst. Ja, Ich sage es dir, du siehst Ihn eigentlich schon, nur erkennst du Ihn noch nicht! Darum sei nur ruhig.“

[10.81] Der arme Mann sieht sich nun wieder fleißig nach allen Seiten um, wo er Jesus zu sehen bekäme; aber er ersieht noch niemanden, den er für Jesus halten könnte. Er wendet sich daher wieder an den Boten und spricht: „Es ist doch merkwürdig! Du sagtest, ich sehe Ihn schon, nur erkennte ich Ihn noch nicht. Ich habe jetzt doch fleißig mit meinen Augen alle durchmustert, die uns nachfolgen; aber unter ihnen kann Er nicht sein, denn sie scheinen bis in ihr Innerstes zerknirscht zu sein und ergriffen von tiefster Ehrfurcht, und alle loben und preisen wie mit einem Munde Jesus, den Herrn von Ewigkeit. Die drei weißgekleideten Männer tun desgleichen, und so ist nach meinen Gedanken wohl schwer anzunehmen, dass sich der Herr Jesus Jehova unter ihnen sichtlich befände. Und doch sagtest du, dass ich Ihn sähe. Oh, ich bitte dich, sage es mir doch, wie und wo ich Ihn denn so ganz eigentlich sehe?“

[10.82] Spricht der Bote: „Siehe hin zur Gottesstadt, der wir nun schon ganz nahe sind; in der wird dir alles klar werden. Wir wandeln jetzt schon gegen die äußeren Wallmauern und werden sonach bald in der heiligen Stadt selbst sein, und es werden dir darinnen erst die Augen vollends aufgehen – und das ungefähr auf die Art wie den zwei nach Emmaus wandelnden Jüngern. Daher sei nur ruhig, denn das muss hier alles so sein und geschehen, auf dass niemandes Heil und Leben und Freiheit irgendeinen Schaden erleide. Wie gefällt dir aber diese Stadt nun, in die wir soeben einziehen?“

[10.83] Spricht der Arme: „O Freund, wo nähme ich Worte her, um die endlose Pracht und Majestät dieser Stadt zu beschreiben! Welche zahllose Menge von den allergrößten und herrlichsten Palästen! Und alle scheinen voll bewohnt zu sein! O Gott, dieser Glanz, diese Pracht, diese unendliche Majestät! Die Schönheit ist wohl unaussprechlich; das fasst und begreift wohl keines Menschen Sinn! Aber nur frage ich, da wir einmal in dieser Stadt sind: Wo ist nun Emmaus, und wo der Sich vor meinen Augen noch immer nicht zeigen wollende Herr Jesus?“

[10.84] Spricht der Bote: „Siehe hier das große Haus, vor dem wir nun stehen, aus dessen strahlenden Fenstern und äußeren Galerien uns zahllose Brüder und Schwestern begrüßen, das ist das wahre ewige Emmaus! In diesem wirst du von nun an wohnen ewiglich! Und da wir nun schon vor Emmaus stehen, das du nun gar wohl siehst, so wende dich nun auch zu Mir und betrachte Mich, da wirst du auch Den erkennen, nach Dem du eine gar so große Sehnsucht und Liebe in deinem Herzen trägst!“

[10.85] Der Arme sieht nun den Boten, der Ich Selbst bin, recht fest an und erkennt nun augenblicklich Mich Selbst im Boten, fällt sogleich jählings auf seine Knie nieder und spricht: „O Du mein Herr und mein Gott! Also Du Selbst warst der Bote! O Du endloseste Liebe! Wie, wie, wie hast Du Selbst Dich denn so tief herabwürdigen können, mir, einem ärmsten Sünder, solch eine Gnade zu erweisen!“

[10.86] Nach diesen Worten verstummt er vor heiligster Entzückung und wird also in Meines Hauses Wohnungen eingeführt.

[10.87] Das weitere seligste Verhältnis dieses Mannes könnt ihr leicht von selbst denken sowie dessen ewige liebtätige Bestimmung. Daher wollen wir damit diese Szene auch beenden und dafür zu einer anderen übergehen. Amen.

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