Am 10. Juni 1843
[3.54.1] Nach diesen Worten des weisen Mannes ging der Lamech, ohne etwas zu reden, wie ein Wonnetrunkener mit Henoch und dem weisen Mann hin in den Tempel, der da noch fortwährend von der weißen Wolke eingehüllt war.
[3.54.2] Als sie nun dort ankamen, getraute sich der unterwegs etwas nüchterner gewordene Lamech nicht, in den Tempel zu treten, obschon der Tempel von allen Seiten her ein vollkommen offener war, und sagte daher zu seinen beiden Freunden:
[3.54.3] „Hört, liebe Brüder und Freunde, ich erwache jetzt aus einem erhabenen Traum und erschaue nun mit vollkommen offenen Augen noch dasselbe, was ich ehedem nur in einem erhabenen Traum zu sehen meinte!
[3.54.4] Ihr sagt aber, dass ich nun mit euch in den Tempel treten solle, ich aber sage euch dagegen, dass ich solches nimmer vermag, denn zu heilig ist nun diese Stätte, da der Tempel errichtet ist, darum ich als ein zu gänzlich unheiliger Mensch sie mit meinen Füßen nimmer zu entheiligen mag.
[3.54.5] Euer Rat und euer Verlangen mag an und für sich überaus gut sein – denn ihr mögt in eurer tiefen Weisheit wohl einsehen, was da irgend das Beste sein mag –, aber ich habe nun auch durch die endlos große Erbarmung des Herrn ein frommes und demütiges Herz überkommen, und dieses Herz sagt zu mir: ‚Du bist noch lange nicht würdig, zu betreten die Stätte, in der sich sonderlich stark zeigt die Herrlichkeit des Herrn, welcher ist ein einiger, allmächtiger Gott, ewig heilig, heilig, heilig!‘ Und so muss ich ja auch dem guten Rat meines Herzens folgen!
[3.54.6] Ihr seid freilich wohl würdig, einzugehen in das Heiligtum Gottes, und könnt allzeit tun nach der geheimen Beheißung in euch – denn Gott der Herr hat euch berufen auf der Höhe, und nie noch hat eine Sünde euer Herz vor Gott entheiligt, indem ihr allzeit frömmsten Gemütes vor den Augen des Herrn gewandelt seid –; aber nicht also steht es bei mir!
[3.54.7] Ich war noch allzeit ein allergrößter frevelhafter Sünder vor Gott und bin darum noch lange nicht rein genug, um mit einem besseren Gewissen zu betreten solch eine heilige Stätte.
[3.54.8] Daher beredet mich diesmal ja nicht ferner, dass ich darob am Ende, genötigt durch die größte Macht eurer himmlischen Weisheit, dennoch betreten müsste den zu mächtigst von Gott geheiligten Tempel!“
[3.54.9] Der weise Mann aber nahm den Lamech bei der Hand und sagte zu ihm: „Höre, du Mann voll Demut in deinem Herzen! Sind denn die Herzen deiner Brüder und Schwestern nicht mehr als dieser Tempel? Und dennoch gingst du jetzt soeben durch gar viele mit uns hindurch! Wie denn mag es dich darum so ängstlich bedünken, in diesen Tempel zu treten, den Gott nur angehaucht hatte, während Er doch mit Seiner ewig heiligen Liebe, Gnade und Erbarmung die Herzen der Brüder und Schwestern belebt hatte?
[3.54.10] Was aber ist wohl mehr: der Hauch aus dem Willen des Herrn, oder Sein wesenhaft lebendiges Wort, aus Seinem Herzen gegossen in die Herzen der Brüder und Schwestern?!
[3.54.11] Siehe, die Welten, die Sonnen und alle Dinge entstammen dem Willenshauch des Herrn; aber nicht also steht es mit dem Geist des Menschen in seinem Herzen! Denn dieser ist ein wesenhafter Teil des ewigen wahrhaftigen Geistes Gottes, im Herzen Gottes wohnend und kommend aus demselben.
[3.54.12] Und urteile selbst, ob es klug ist, zu unterlassen – aus großer, gerechter Demut wohl – das bei weitem Geringere, wenn man zuvor sich nicht im Geringsten bedünkt hatte, zu tun das bei weitem Größere!
[3.54.13] Zudem wird es dir nicht bange, mir zu reichen deine Hand, wie ich dir gereicht habe die meinige; und ich bin, du kannst es mir glauben, mehr, denn da ist dieser Tempel samt der weißen Wolke und dem mächtig strahlenden Herzen oberhalb des Tempels und der weißen Wolke, welche den Tempel noch dicht umhüllt hält!
[3.54.14] Wenn sich dieses aber alles untrüglich also verhält, so magst du schon mit dem besten Gewissen von der Welt mit uns in den Tempel treten und allda vernehmen das, was dir verheißen ward!“
[3.54.15] Hier ermannte sich der Lamech und ging mit den beiden in den Tempel ganz wohlgemut und hatte keine Scheu mehr; aber der weise Mann blieb ihm noch unbekannt.
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