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39. „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.“ – 13. Februar 1842 [Supplemente 1883]

  1. Dieser Text scheint für viele ein äußerst leicht fasslicher zu sein. Allein solches ist mitnichten der Fall. Dieser Text wird erst dann vollends begriffen, so er bei jemandem ins tätige Lebensverhältnis übergegangen ist. Dessen ungeachtet aber soll hier doch das wahre Verständnis dieses Textes folgen.
  2. Um diesen Text aber gründlich zu erfassen, muss man zuerst in die Wissenschaft seines inneren Gefühls dringen, wer vorerst der Johannes oder das Ich, und wer diesem nach das eigentliche Er ist, das da wachsen solle, wie das Ich abnehmen.
  3. Johannes ist das Sinnbild des äußeren Menschen, welcher da der Buße bedarf, die an und für sich nichts anderes ist, als die lebendige Umkehrung des Menschen von der Welt hinüber zu Gott. Also hat auch der Johannes die Buße gepredigt, damit die Menschen ihr Weltliches ablegen und das Geistige anziehen sollten. Er selbst war das Sinnbild der strengsten Buße.
  4. Was ist sonach bei den Menschen der Johannes? Der Johannes bei den Menschen ist das eigentliche, recht gestaltete Ich oder das Leben des Fleisches, wenn der Geist und die Seele noch nicht für sich, sondern für das Fleisch leben. Es würde hier freilich wohl manchen bedünken können, solches Leben kann doch unmöglich ein rechtes, Mir wohlgefälliges Leben sein. Allein es ist in der Natur und Ordnung aller Dinge nicht anders möglich. Um diese Wahrheit vollends zu erkennen, darf jeder nur seine Augen selbst zu der Pflanzenwelt hinwenden, und er wird auch da das Ich und das Er gar deutlich ersehen.
  5. Betrachte was immer für eine Blüte, was wird wohl aus der Frucht werden, so die Blüte nicht abnimmt und verwelkt? Seht hier das Ich und das Er. Wenn ferneres schon die Blüte ganz abgefallen ist und der Leib der Frucht oder die eigentliche Schale, in welcher die Frucht verborgen liegt, zunimmt und wächst, da ist von der inwendigen Frucht, in welcher das Er eingeschlossen ist, immer noch wenig zu sehen. Wenn aber die Schale als dieser zweite Leib auch anfängt abzunehmen, also dass er verdorrt und somit tot wird, dann erst wächst und reift in dem Verhältnis, wie das äußere Ich abnimmt, das innere Er, welches ist die lebendige Frucht.
  6. Seht nun, dass hier zuvor das Leben der Seele und des Geistes nach außen wirken musste, habt ihr bei der Blüte und der nachherigen Fruchtschale gesehen; dass es aber bei diesem Leben nach außen hinaus nicht zu verbleiben hat, mochtet ihr ja wohl bemerkt haben an dem Vergehen der Blüte und endlich an dem der Schale. So jemand dieses Gleichnis recht auffasst, so wird er den Johannes wohl nicht gar zu schwer in sich finden.
  7. Seht, solches aber ist der Johannes: So jemand liest das Wort vom Anfang bis zum Ende, da hat er es doch zunächst gelesen mit den Augen, dann mit dem Mund und also auch mit den Ohren. Seht, so er das mit großer Aufmerksamkeit getan hat, da waren ja Seele und Geist nach außen hinaus gerichtet und achteten auf das Fleisch, wie dieses das Wort dem Buchstaben nach in sich aufnahm. Seht, ist das nicht die Blüte? Was geschieht aber hernach, so das Wort schon gelesen wurde? Seht nur eine Blüte an, so da anfängt ein Frühlingshauch ihre Kelche langsam zu bewegen. Fallen da nicht die befruchteten Stäublein von den äußeren männlichen Blütenfäden hinauf auf die weibliche Blütenfaser, wodurch dann erst der neue Lebenskeim zur Bildung der eigentlichen inneren Frucht in die kaum sichtbare Entstehung der Schale gelegt wird?
  8. Seht, das ist die Aufnahme des Wortes in das innere Gefühlsleben. Wenn das Wort da Wurzel gefasst hat, so fängt es an zu wachsen und wird größer und größer und bildet auf diese Weise vorerst einen Leib, das ist – einen Leib der Buße, in welchen Leib also das Alles des äußeren Leibes übergegangen ist. Dieser Leib ist dann der eigentliche Johannes.
  9. Aber möchte hier nicht jemand fragen, warum soll denn dieser edle Leib auch wieder abzunehmen anfangen, und was ist das dadurch wachsen sollende Er? Seht, so das Wort ausgewachsen ist in dem Leben des Gefühls, was wird da rege oder wohin zielt das Gefühl? Kann sich das Gefühl wohl selbst genügen? Oder muss es nicht einen anderen Gegenstand haben, den es ergreift und endlich ganz in ihn übergeht?
  10. Damit ihr dieses wieder um so gründlicher fasst, so will Ich zu dem Behuf ein neues Gleichnis geben. Eine Braut bekommt von fernem Land ein Schreiben von ihrem Bräutigam. Sie liest jedes Wort mit großer Aufmerksamkeit durch. Wenn sie aber den Brief durchgelesen hat, so hat sich auch sogleich darauf aus diesem Wort ein Wesen in ihr gebildet – nämlich ein Gefühlsmensch gleich dem ihres Bräutigams, in welchen Menschen nun ihr ganzes äußeres Blütenleben übergegangen ist, so zwar, dass sie jetzt lediglich in diesem zweiten Menschen lebt, atmet, denkt und fühlt.
  11. Seht, dieser Mensch ist sonach auch ein Johannes in dieser Braut, der sie durch seine Bußpredigt genötigt hat, sich von aller anderen Welt abzuziehen und sich zu vereinen mit diesem neuen Menschen in ihr. Nun frage Ich weiter: Wird die Braut wohl zufrieden sein mit diesem in ihr gebildeten Menschen, welcher da noch immer das Ich ausmacht? Nein, sondern sie wird in diesem neuen Menschen gar bald die lebendige Frucht der Liebe gar mächtig zu dem Er wahrzunehmen anfangen, so zwar, dass sie ganz in diese Liebe zum Er übergehen wird. Aus diesem Er wird sich ihr Verlangen immer lebendiger und lebendiger nach dem eigentlichen Er aussprechen und wird nimmer ruhen, bis nicht der wirkliche Er gekommen und sie vollkommen eins mit ihm geworden ist.
  12. Seht, also ist es auch der Fall mit dem Wort im Menschen, da es vorher in das lebendige Fleisch übergegangen ist. Es wird keine Ruhe in dem neuen Gefühlsmenschen, als bis er das eigentliche große und heilige Er in sich gefunden hat. Wenn er aber dieses Er in sich gefunden hat, sagt und urteilt selbst, wird er nicht wollen in dieses Er vollends übergehen? Seht, solches ist ja in der Natur aller Dinge gegründet, und es ist zwischen ihnen und den Menschen kein anderer Unterschied, als dass bei den Dingen dieses vor sich gehen muss, bei dem freien Menschen aber bleibt es nur willkürliche Bedingung seines Lebens.
  13. Und also muss das Ich abnehmen, damit das Er wachse im Menschen. Und wenn das Ich nicht abnimmt, so wird alles nach außen in die Rinde, Blüte und Schale übergehen, aber die Frucht des Lebens wird nimmerdar zum Vorschein kommen.
  14. Ihr möchtet wohl die schönsten Blumen in die Erde streuen, aber da wird nie eine Frucht zum Vorschein kommen, sondern sie alle werden zunichte verwesen in der Erde. So ihr aber das reife Samenkorn nehmt und legt es in die Erde, da werdet ihr euch ja doch sichtbar überzeugen, dass das vollkommene ganze Außenleben in dieses Samenkorn übergehen musste, denn wäre solches nicht der Fall, wie möchte da aus dem Samenkorn dieselbe Pflanze wieder zum neuen lebendigen Vorschein kommen?
  15. Wenn ihr dieses recht bedenkt, so werdet ihr auch diesen Text der Schrift vollkommen gut einsehen, welcher also lautet: Wer sein Leben liebt, der wird es verlieren; wer es aber flieht, der wird es erhalten. Also ist hier die Art und Weise durch den Johannes in jedem Menschen gezeigt, wie das Leben zu fliehen ist. Tut also darnach, lasst auch euer Ich abnehmen, so werde auch Ich in euch wachsen und zunehmen ins Unendliche, wie der hier zugrunde liegende Schrifttext es euch lehrt! Amen.

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