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44. Vom Segen der Berge – 25. Mai 1842 [Der Großglockner 1901]

  1. Was lehren und predigen die Berge noch? Was die Berge noch lehren und predigen, davon kann sich ein jeder unbefangen denkende Gebirgsbesteiger auf den ersten Blick überzeugen und in seinem Gefühl recht klar und deutlich die Worte vernehmen, welche also lauten dürften:
  2. „Siehe uns an, du staubbelasteter Erdenpilger, wie frei und unabhängig wir von unseren hohen Scheiteln in die weite Ferne der Schöpfungen Gottes dahin blicken! Eine freie Luft weht um unsere Stirnen, und der Sonnen Strahl bricht sich sanft über unseren hohen Rücken! Kein Grenzstein sagt hier dem Wanderer: ‚Bis hierher und nicht weiter!‘, sondern wo er immerhin seinen Fuß hinsetzt, betritt er seinen eigenen Boden. Denn von dem Boden, auf welchem er geboren ward, muss gesteuert [Steuern bezahlt] werden; wir aber sind ohne Grenzsteine, und für unsere Scheitel wird keine Steuer entrichtet. Daher bist du, Wanderer, auf unseren Höhen vollkommen zu Hause!“
  3. Dass diese Worte vollkommen richtig sind, davon kann sich ein jeder leicht überzeugen, wenn er je solche hohen Triften der Gebirge betritt. Wie da seine Augen einen weit gedehnten Sehkreis bekommen, also bekommt auch sein Gemüt einen weit gedehnten Gefühlskreis, und dadurch werden seine Gedanken mit dem Gefühl vereinigt. Und er, der vielleicht noch nie im Herzen gedacht hat, empfindet nun zum ersten Mal, wie lieblich, süß und frei die Gedanken des Herzens schmecken und um wie vieles weiter sie sich über den Horizont des gewöhnlichen Verstandes erstrecken.
  4. Wenn solches nun der Fall ist, wird es da nicht behaglicher in dem armseligen Kopf, wo auch um dessen Stirn freiere Lüfte aus dem hohen Reich der Geister wehen? Und wird es nicht einheimischer und traulicher sein, sich allda zu befinden, wo die Strahlen des sonst so hitzigen Verstandes sanft gebrochen werden und sich nach solcher Brechung hinabsenken gar lieblich in das frei gewordene Herz?
  5. Wo ist auf diesen Höhen ein Zollverein der Gedanken anzutreffen und wo eine Taxierkammer dessen, was da ist ein freies Eigentum des unsterblichen Geistes? Wo ist da ein Grenzstein anzutreffen, über welchen die fühlende Seele nicht treten soll?
  6. Ja, hier lernt der unbefangene Wanderer – wenn er nicht mit verstopften Ohren und verbundenen Augen solche Höhen betritt – was das heißt: frei sein in der Höhe seiner Gedanken und in der Tiefe seines Gefühls, und wie selig es ist, wenn zwei sich unbefangen die Hände reichen können, und wie selig da der Gedanke an Gott, wo Ihn der Wanderer aus der Tiefe seines Herzens frei bekennen kann, und kann Ihn lieben und anbeten in dem freien, großen Tempel der Unendlichkeit!
  7. Sagt Mir, welcher nur einigermaßen innerlich geweckte Mensch wird nicht von diesem heiligen Gefühl beseelt sein, so er sich an einem heiteren Morgen befinden möchte auf einer solchen geheiligten Höhe?
  8. Der Mensch zwar kann auch in der Tiefe Heiliges und Großes denken; aber es geht ihm dabei, als wenn er mit ziemlich hungrigem Magen in einem Buch die Beschreibung einer guten Mahlzeit liest, bei welcher Gelegenheit ihm noch die wirkliche Mahlzeit ums Hundertfache lieber wäre denn hundert noch vortrefflichere Mahlzeitbeschreibungen, von denen er aber dessen ungeachtet dennoch nichts herabbeißen kann.
  9. Also ist auch auf solchen Höhen ein inneres Gefühl und die innere Wahrnehmung gerade um so viel kräftiger und mächtiger gegen das, was er in seiner Kammer empfindet, als da kräftiger und mächtiger ist eine wirkliche Mahlzeit vor einer beschriebenen. Oder welcher Mensch hat da ein lebendigeres Gefühl – einer, der seine lebendige zukünftige Braut am Arm führt, oder derjenige, der sich mit den allerschönsten Farben dieselbe kunstgerecht entweder gemalt oder beschrieben hat? Sicher wird ein jeder die lebendige greifen und wird dem anderen sein Gemälde und seine Beschreibung unangetastet lassen.
  10. Also ist es auch hier der Fall. Auf solchen Höhen findet der Wanderer gastfreundlichst dasjenige, was ihm in der Tiefe alle Mühe und Anstrengung nicht zu geben vermag. Daher ist es wohl gar gut und nützlich in jeder Hinsicht, sich zu öfteren Malen die Mühe nicht gereuen zu lassen, eine oder die andere Gebirgshöhe zu besteigen.
  11. Denn der Gewinn ist ja ein doppelter und reichlicher: Denn fürs Erste werden dadurch alle naturmäßigen Lebensgeister gestärkt; jedoch ist dieser Gewinn der geringere, obschon eine Gebirgsbesteigung besser ist denn zehn Apotheken und ebenso viele der renommiertesten Ärzte.
  12. Bei weitem größer aber ist der Nutzen für den Geist, weil er da eine gar große Stärkung von seiner ursprünglichen Heimat aus bekommt.
  13. Wer von euch, so er Gebirge bestiegen hat, wird sich dessen nicht erinnern, dass ihm zwischen den hohen Alpen traulicher und heimlicher [heimatlicher] zu Gemüte war, als wenn er sich in einer noch so volkreichen Stadt befinden möchte? Woher rührt denn solches Gefühl?
  14. Frage nur die Berge, und sie werden es dir sobald durch eben dieses Gefühl sagen: „Siehe, was dein inneres Gefühl dir – freilich wohl noch etwas dunkel ahnend – sagt, ist volle Wahrheit; denn hier bist du wahrhaft zu Hause, und zwar im Kreis deiner vielen Voreltern, welche in entsprechender Weise sich lange schon hier überselig befinden!“
  15. Seht, solches alles lehren auch die Berge! Was lehren und predigen sie aber noch? Hört sie nur ferner an; sie wissen noch allerlei zu erzählen.
  16. Um euch solches, was da noch kommt, ein wenig näher vor die Augen zu stellen, so will Ich euch auch eben aus einer solchen Gebirgsbegebenheit ein kurzes Histörchen zum Besten geben.
  17. Es war einmal ein frommer Mann; er war an Jahren schon sehr vorgerückt. Dieser Mann hatte gar viele Prüfungen zu bestehen, und unter diesen Prüfungen war auch diese eine der stärksten, dass er bis auf seine jüngste nun zwanzig Jahre alte Tochter alle seine Kinder samt seinem ihm überteuren Weib verlor.
  18. Also stand er nun allein mit dieser seiner Tochter da, bewohnend ein Häuschen am Fuß einer bedeutend hohen Alpe, dabei eben so viele Grundstücke sich befanden, dass sie ihn und sein Töchterchen nebst einer bejahrten Magd und einem alten Knecht kümmerlich nährten.
  19. Dieser Mann betete oft und viel zu Mir in Gesellschaft seines Töchterchens und weinte dabei auch viel um die Seinigen und hatte oft eine große Sehnsucht, ihnen bald nachfolgen zu können.
  20. Als er einmal an einem Sonnabend mit seiner Tochter nahe über die Mitternacht hinaus gebetet und geseufzt hatte und er samt seiner Tochter betend und seufzend einschlief, da träumte es der Tochter, als sei sie mit dem alten Vater auf dem höchsten Gipfel der Alpe gestanden. Und wie sie da freudig um sich blickte in die weiten Fernen hinaus, da bemerkte sie sobald eine ganze Menge lieblich weißer Wolken der Höhe zuschweben, und als diese Wölkchen vollends zu der Höhe hinangeschwebt waren, da gewahrte sie sobald, dass diese Wölkchen vollkommen menschliche Wesen waren.
  21. Und diese Wesen waren anfangs verschleiert; aber bald lüfteten sie ihre Schleier, und sie, die Tochter und der alte Vater, erkannten sogleich überseligen Herzens, dass diese Wesen ihre vorangegangenen Teuren waren, wovon die Mutter sobald zu ihrem geliebten Gatten trat, ihn herzte und koste. Der Gatte, als der Vater der Tochter, aber weinte vor übergroßer Freude ob dieses seligen Wiedersehens. Darauf aber begab sich die Mutter zur Tochter, küsste sie und sagte darauf zu ihr:
  22. „Liebe Tochter, so wie du dich mit deinem Vater jetzt allhier befindest, ebenso sollt ihr euch beide morgen Nachmittag hier befinden, da werdet ihr noch mehr sehen und empfinden denn jetzt; aber darob sollt ihr daheim nichts versäumen in dem, was euch was immer für eine Ordnung der Dinge vorschreibt.“
  23. Nach diesen Worten erwachte die Tochter sogleich und weckte durch ihr Erwachen ihren auch noch schlafenden Vater, und da dieser den Anbruch des Tages merkte, so blieb er auch sofort wach, nach alter Gewohnheit, stand auf, kleidete sich an und weckte dann auch das Hausgesinde. Nach dieser Arbeit aber begab er sich wieder in sein Zimmerchen, allwo er sein Töchterchen schon angekleidet und das Morgengebet verrichtend fand.
  24. Er segnete sein Töchterchen und küsste sie, und kniete dann selbst nieder und verrichtete mit ihr seine Morgenandacht. Als aber beide damit fertig waren, da standen sie auf, das Töchterchen umarmte ihren alten Vater und küsste ihn gar traulich und herzlich, dass der Vater es ihr ansah, dass sie übergewöhnlich fröhlichen und heiteren Mutes war; darum er sie auch sobald fragte: „Mein liebes Töchterchen, wie kommt es denn, dass du heute gar so munter und fröhlich bist?“
  25. Das Töchterchen aber sagte zu ihm: „Aber lieber Vater, hat denn dir heute gar nichts geträumt?“
  26. Der Vater aber erwiderte ihr: „Es kommt mir wohl vor, als hätte mir etwas geträumt; allein was – das wäre mir unmöglich herauszubringen.“
  27. Das Töchterchen aber erzählte nun dem Vater ihren Traum, welchen er mit großer und sichtbarer Bewegung seines Gemütes anhörte und dann nach der beendeten Erzählung sagte:
  28. „Höre, mein liebes Töchterchen, was dir geträumt hatte, das wollen wir heute auch in Wirklichkeit ausführen! Daher wollen wir sogleich jetzt in der Frühe uns in die nicht ferne Kirche begeben, daselbst dem Gottesdienst wohlandächtigen Herzens beiwohnen, sodann zu Hause unser Mahl nehmen und uns dann in der Begleitung unseres alten Knechtes hin auf die Höhe begeben. Wenn wir nur eine Stunde vor dem Mittag fortgehen, so sind wir bis Nachmittag um die dritte Stunde ja gar leicht auf der besagten Vollhöhe unserer herrlichen Alpe und können bei dieser Gelegenheit auch im Namen des Herrn nachsehen, was unser Hausvieh und unsere zwei Hirten da oben machen, und ob alles gesund und in gutem Zustand ist.“
  29. Wie gesagt, also auch getan. Um drei Uhr nachmittags stand unsere kleine Familie schon auf der Vollhöhe; wie aber das Töchterchen es im Traum gesehen hat, so sah sie auch jetzt in der Wirklichkeit ganz gleiche Wölkchen sich gegen die Höhe begeben.
  30. Wie diese Wölkchen näher und näher kamen, bemerkte sie auch der Vater und mit ihm auch der alte Knecht. Und als endlich die Wölkchen vollends die Höhe umschwebten, so gestalteten sie sich auch sobald zu den im Traum schon kundgegebenen Wesen.
  31. Als der alte Vater in diesen Wesen die Seinigen erkannte, wie diese auch gar so liebend ihn umfingen, dass er darum nicht im Geringsten mehr zweifeln konnte, dass das wahrhaft seine seligen Teuren sind, da weinte er laut vor Freude und dankte Mir mit dem inbrünstigsten Herzen, dass Ich ihm noch in diesem Erdenleben habe eine so große Seligkeit zukommen lassen.
  32. Nach solchem Dankgebet aber wurde seinem Geist die innere Sehe völlig geöffnet. Da ersah er sobald die ganze Höhe verklärt und verwandelt in eine himmlische Gegend und sah da die herrlichen Wohnungen der Seinigen. Und aus einer Wohnung sah er einen Mann treten, der da hatte ein großes Gefolge; und dieser Mann begab sich schnurgerade zu unserem alten Mann hin und sagte
  33. „Siehe, mein lieber Sohn, wo es auf der Erde bunt und lebendig zugeht, da sieht es im Geiste leer und tot aus; wo aber auf der Erde es aussieht, als hätte der Tod für alle Zeiten seine Ernte gehalten, da ist es aber im Geiste umso lebendiger und lebensvoller.
  34. Siehe, auf den hohen Alpen wächst zwar kein Getreide und sind keine Weinberge, keine Fruchtbäume, wie auch keine Goldbergwerke anzutreffen. Was aber dafür anzutreffen ist im Geiste, das siehst du jetzt im Geiste durch die Gnade des Herrn vor deinen Augen enthüllt!
  35. Du wirst noch eine kurze Zeit die Erde mit deines Leibes Füßen betreten. Wachse aber in dieser Zeit in der Liebe zum Herrn! Und siehe dort neben meiner Wohnung einen zweiten herrlichen Palast; dieser ist schon für dich bestimmt und für die Deinigen, wenn du das Zeitliche verlassen wirst und wirst antreten das freie, ewige Leben!“
  36. Bei diesen Worten erkannte unser alter Mann, dass dieser Redner sein irdischer Vater war –
  37. nach welcher Erkennung sobald das selige Gesicht verschwand. Unsere Wanderer behielten davon das lebendige, selige und stärkende Gefühl, priesen und dankten Mir darauf für solche erzeigte Gnade und kehrten sodann heiteren und gestärkten Mutes wieder ihrer irdischen Heimat zu.
  38. Der traurige Mann verlebte dann die übrige Zeit noch recht heiteren Mutes und voll Liebe und Dankbarkeit zu Mir auf der Erde; und so sich seiner noch dann und wann eine überflüssige Schwermut bemächtigte, so machte er, wenn es nur immer seine leiblichen Kräfte gestatteten, sobald einen Besuch unserer vorbezeichneten Höhe, von welcher er allzeit wieder neu gestärkt zurückkehrte.
  39. Seht, solche Geschichte erzählen euch die Berge – wenn auch nicht für jedermann mit vernehmlichen Worten, aber desto mehr mit einer sehr wahrnehmbaren Einflüsterung in das Gefühl der Seele und durch diese auch zur Liebe des Geistes.
  40. Wenn ihr zufolge dieser Wissenschaft euch bei guter Gelegenheit auf irgendeinen Berg von einer bedeutenden Höhe begebt und euch daselbst solche Gefühle anwandeln, so könnt ihr daraus sicher schließen und sagen: „Ja das sind wahrhaft heimatliche Gefühle! Wie süß und angenehm sind sie, und wie herrlich muss es sein für diejenigen, welche sich schon für ewig in diesem stillen Heimatland befinden!“
  41. Denn ihr könnt es glauben, dass solch beseligende Gefühle nicht etwa Wirkungen der alleinigen für sich dastehenden Höhen sind, sondern sie entstammen den euch da umgebenden seligen Geistern, die gleich Mir euch vorangegangen sind, um für euch eine bleibende Stätte zu bereiten.
  42. Doch müsst ihr dabei etwa nicht einseitig sein und denken: „Dieser oder jener Berg ist es, da solche Wohnungen im Geiste aufgerichtet sind!“, sondern was hier gesagt ist, gilt zumeist von jedem Berg, auf welchem die Grenzsteine des zeitlichen Eigentumsrechtes weit voneinander abstehen.
  43. Ähnliche Gefühle mögt ihr wohl auch schon auf unbedeutend hohen Hügeln gewahren; aber lebendig werden sie erst daselbst, wo die Axt des Holzhauers nichts mehr zu tun hat.
  44. Solches also erzählen, lehren und predigen auch die Berge. Was sie aber noch erzählen, lehren und predigen, das wollen wir noch in der nächsten Mitteilung mit vieler Klarheit dartun; daher lassen wir es für heute wieder gut sein.

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