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10. Die Berge als Liebeprediger und Weisheitspropheten

Am 21. Mai 1842

[10.1] Was demnach noch die anderen Vorteile betrifft, so bestehen diese darin, dass ein jeder Berg an und für sich, in Verbindung mit anderen, und besonders aber ein Gletscher, wie unser Großglockner da einer ist, einen beständigen Liebeprediger und Weisheitspropheten abgibt.

[10.2] Ihr werdet hier fragen und sagen: „Das mag wohl sein; wie aber kann man einen Berg Liebe und Weisheit predigen hören?“

[10.3] Das ist eine ganz andere und auch eine ganz eigentümlich sonderbare Frage; und Ich sage euch darauf: Es gibt auf der Welt nichts Leichteres, als diese zweifache Stimme der Berge zu vernehmen. Wie aber jedoch solche zu vernehmen ist, dieses Geheimnis sollen hier mehrere Beispiele aufdecken.

[10.4] Es sollen irgend zwei Menschen sein, die sich stets verächtlich begegnen. Es nützt da weder Rat noch Tat; sie werden in der Tiefe stets das bleiben, was sie sind. Nehmt aber diese zwei Menschen und führt sie auf einen hohen Berg, und ihr werdet euch sobald überzeugen, was dieser große Liebe- und Weisheitsprediger vermag; denn ihr dürft versichert sein, ein halber Tag wird diese zwei feindlichen Menschen gar bald zu den intimsten Freunden machen.

[10.5] Hier werdet ihr fragen: „Warum denn? Wie ist solches möglich?“

[10.6] Auf diese Frage gibt der Berg schon für sich die Antwort: Nachdem er eine Unterlage ist, oder gewisserart der Sitz der Friedensgeister, welche sich sobald ins wohltätige Mittel legen, wo irgendeine Uneinigkeit vorwaltet. Sie bearbeiten da im Augenblick, als der Mensch nur den ersten Fuß auf den Berg setzt, schon die Gemüter durch eine stets zunehmende Spannung nach oben und erregen dadurch das Gefühl der Liebe immer mächtiger und mächtiger; und wenn dann solche Menschen erst vollends die Höhe erreicht haben, so ist das freundschaftliche Gefühl bei jedem schon so weit ausgedehnt und verstärkt worden, dass solche Menschen oft, wenn sie es auch wollten, dennoch nicht können, sich länger gegenseitig unfreundlich zu begegnen.

[10.7] Sind die Gemüter härter, so lassen dann solche Geister auf einem hohen Berg über zwei solche gegenseitigen Feinde ein tüchtiges Ungemach kommen, dass darob beide in augenscheinliche Lebensgefahr geraten. Dieses ist dann ein Universalmittel, welches lange Feindschaften gar leicht mit einem Schlag in die intimste Freundschaft verwandelt.

[10.8] Dass solches unfehlbar richtig ist, soll euch ein anderes Beispiel vollgültig zeigen.

[10.9] Dass zum Beispiel bei großen Elementarrevolutionen – als da sind große, verheerende Ungewitter, große Überschwemmungen und noch andere derlei Erscheinungen – selbst die reißendsten Tiere, als Tiger, Löwen, Hyänen, Bären, Schlangen, so sanft und vertraulich werden, dass sich dieselben zu den Menschen und andern zahmen Tieren gleich den Tauben unschädlich und überaus sanftmütig gesellen, könnt ihr aus den verschiedensten Erfahrungen, welche zu allen Zeiten gemacht worden sind, zuversichtlich entnehmen.

[10.10] Ich mache euch nur auf einen solchen ähnlichen Fall aufmerksam, und zwar auf denjenigen, welchen ihr bei der Überschwemmung der euch bekannten Stadt Lyon in Frankreich sicher werdet gelesen haben.

[10.11] Wenn demnach solche Lebensgefahren sogar solche reißenden Tiere freundlich stimmen, so werden sie solches wohl auch unter Menschen zuwege bringen, und besonders sicher auf den Gebirgshöhen, wo die Gemüter von Friedensgeistern im Geheimen tätigst bearbeitet werden.

[10.12] Entnehmet aus diesem Beispiel, wie die Berge reden; zum fleischlichen Ohr reden sie freilich nicht, aber desto vernehmlicher zum Ohr des Geistes.

[10.13] Wie reden aber die Berge noch weiter, und was reden sie?

[10.14] Seht, es lebt oft hie und da in der Tiefe ein eingeschrumpftes Gemüt, das weiter keinen Sinn hat, als nur zu stopfen seinen Magen mit allerlei Speise und Trank und sich darauf irgendwo auf ein weiches Lager niederzulegen und in seiner behaglichen Dummheit den Fraß auszuschlafen.

[10.15] Solche Menschen kennen von Meiner Macht, Kraft und Gewalt oft kaum mehr als die Kinder im Mutterleib, und es gereicht ihnen schon zum großen Ruhm, wenn sie es nur so weit gebracht haben, dass sie schlechtweg Meinen Namen auszusprechen imstande sind.

[10.16] Wenn solche Menschen dann einmal von irgendeinem wohltätigen Freund auf einen bedeutenden Berg mitgezogen werden, so ist das auch der erste Augenblick ihres ganzen Lebens, in welchem sie erwachen, und sich da umsehen und umschauen [und gewahren], dass Gott, den sie sonst nur so schläfrig ausgesprochen haben, ein bisschen größer und mächtiger sein muss, als Er von ihnen bis auf diesen Augenblick gedacht wurde.

[10.17] Dass dieses ebenfalls wieder seine Richtigkeit hat, beurkundet ja das auf das Klarste, dass fürs Erste Gebirgsfreunde gewöhnlich sehr sanfte Menschen sind; jene aber, welche früher höchst träge und einsilbig waren, werden hernach gesprächig und wissen eine Menge zu erzählen, was alles ihnen bei der Besteigung eines solchen Berges vorgekommen ist.

[10.18] Seht, wie allhier die Berge wieder reden, und sie sind somit die besten Sprachmeister und Zungenlöser für solche Menschen sogar, denen es nicht selten zur Last war, ihren eigenen Namen auszusprechen. Der Grund liegt auch hier in der Erweckung des Geistes, durch welche denn auch die Seele und der Leib belebter und tätiger werden.

[10.19] Wie reden denn die Berge noch?

[10.20] Es gehen zum Beispiel einige wissbegierige Menschen auf die Höhen so mancher Berge, finden da nicht selten sogenannte Naturseltenheiten: Muscheln, die da oft in einem oder dem anderen Felsen stecken, oder sie finden eine andere, diesem oder dem anderen Berg durchaus nicht eigentümliche Steingattung, oder sie finden verschiedene seltene Pflanzen und dergleichen noch eine Menge. Bei solchen Auffindungen sagen ihnen dann die Berge: „Seht, da, wo ihr die Muschel gefunden habt, ist einst sicher Wasser gestanden; wo ihr die versteinerten Knochen gefunden habt, waren dereinst üppige Fluren und dichte Wälder, auf und in denen die großen Tiere, von denen die riesigen Knochen zeugen, hinreichendes Futter fanden. Da, wo ihr fremdartige Steine findet, sind irgend große Elementarrevolutionen vor sich gegangen, durch welche diese fremden Körper daher geschleudert worden sind. Allda ihr aber besonders schöne, wohlduftende und eigentümliche Pflanzen findet, mögt ihr euch daran erinnern, dass fürs Erste diese Pflanzen noch fortlebende Überreste einer vorzeitlichen Vegetation sind und daher auch kräftiger sind und wohlduftender denn diejenigen, die da, gewaltig schon degeneriert, einförmig die Ebenen und Täler zieren.“

[10.21] Seht, also reden die Berge wieder und enthüllen oder eröffnen vor den Augen dieser Wissbegierigen das große Geschichtsbuch der Vorzeit und sagen ihnen, wie es ungefähr einst mag ausgesehen haben. Hier sind somit die Berge die besten und zuverlässigsten Lehrer großer Welt- und Naturbegebenheiten und zeigen ihnen im Geheimen, wie unergründlich Meine Wege und wie unerforschlich Meine Ratschlüsse sind.

[10.22] Dadurch werden solche oft bei sich etwas aufgeblasenen Gelehrten sehr bedeutend gedemütigt, und welche Predigt ist wohl besser als diejenige, welche die Demut predigt!

[10.23] Was und wie predigen die Berge noch?

[10.24] Seht, so jemand ihre kahlen Scheitel erstiegen hat, dem werden die höchst eigentümlichen Formationen dieser Berge die Frage entlocken: „Seid ihr Berge schon vom Uranfang also dagestanden oder seid ihr erst nachträglich gebildet worden, und wie seid ihr zu dieser gegenwärtigen Form gekommen?“

[10.25] Und der also fragende Mensch wird durch die vielen losgerissenen Steine sogleich eine Antwort bekommen, welche also lauten wird: „Wir sind seit unserer Entstehung schon gar gewaltig verändert worden; denn mehr als die Hälfte unserer vormaligen Höhe ruht lange schon, die Tiefen der Täler und Gräben ausfüllend, tief unter unserem gegenwärtigen Fuß begraben, und so du uns sehen könntest im Verlauf von einigen hundert Jahren nur, so würdest du uns sicher nicht mehr erkennen.

[10.26] So du aber siehst die verschiedenen Steigungen unseres Gesteins und findest zwischen den Blättern dieses unseres Gesteins nicht selten noch wohl erkennbare Abdrücke von Pflanzen und Tieren, welche gewöhnlich nur die tiefen Gegenden der Erde bewohnen und in denselben fortkommen, so kannst du ja mit Sicherheit daraus schließen, dass wir dereinst selbst ebenes Land gebildet haben und erst nach dem höchst weisen Ratschluss des Schöpfers über das flache Land stückweise erhoben worden sind.

[10.27] So du aber nun Gräben, Schluchten, Klüfte, Riffe und Risse beschaust, so kannst du daraus ja mit großer Leichtigkeit ersehen, wie da einst Fluten und große Elementarstürme ihre Riesenkräfte an unserer harten Stirn versucht und geübt haben.“

[10.28] Seht, also reden wieder die Berge und erteilen den Menschen den vollgültigsten Aufschluss über die Art ihrer Entstehung, ihrer Gestaltung, und warum sie jetzt also aussehen.

[10.29] Wie und was reden denn die Berge noch?

[10.30] Seht, wenn da ein oder der andere gewecktere Mensch auf ihre Höhen seine Füße setzt und findet da nichts als kahles Gestein, Schnee und Eisfelder mitunter, so sagen die Berge zu ihm:

[10.31] „Siehe, du stolzer, ruhmsüchtiger Mensch, der du nur immer trachtest, dich stolz zu erheben, um zu herrschen über deine Brüder, wie mager die Früchte der Höhe aussehen! Also, wie du uns hier kahl, kalt, gefühl- und leblos findest, geradeso bist auch du in deinem Herrscherwahn!

[10.32] Unser kaltes Gestein und unser Schnee und Eis wirken zwar segnend für die Täler, da wir in steter Verbindung mit unserer umfangreichen Niederung stehen und diese bei Weitem größer ist denn wir selbst in unseren Höhen; was würde aber mit uns geschehen, so wir täten wie du und zögen alle unsere Niederungen herauf auf unsere Häupter? Würden wir da nicht zu einem mächtigen, erderschütternden Fall kommen?

[10.33] Daher lerne du – ein wahrer Mensch zu sein – von uns: Sei kahl und kalt und unfruchtbar in deinem Verstand, und lass denselben stets sich erniedrigen, also wie wir uns stets erniedern, so wird deine Liebe dafür wachsen und dein Leben zunehmen daselbst, wozu du gleich uns von dem Schöpfer berufen bist, also vollends lebendig zu werden und zu sein. Lasse daher auch du deinen vermeintlich weitum sehenden Verstand durch deine Demut umwölkt und umnebelt sein, damit er da werde zur tropfbaren, segensreichen Flüssigkeit, welche gleich unseren Bächlein hinabfließt in die Tiefe deiner Liebe, um dieselbe segnend zu beleben, also wie unsere Bächlein beleben unsere Niederungen und nähren alle ihre Frucht.“

[10.34] Seht, auch so reden die Berge.

[10.35] Wie und was reden aber die Berge noch?

[10.36] Seht, es besteigt wieder ein anderer Mensch ihre Höhen.

[10.37] Dieser Mensch ist ein reicher Spekulant, dem nichts so sehr am Herzen liegt, als Gold und Silber. Was sagen denn zu diesem Menschen die Berge, so er sich allenfalls doch einmal so viel Zeit nahm, ihnen einen Besuch abzustatten?

[10.38] Oh, diesem Menschen geben sie eine gar vortreffliche Lehre und sagen ihm: „Du törichter Mensch, wie weit und wie tief bist du gefallen? Siehe, das du also liebst, ist nichts als unser Unrat! Was würde aber dein Bruder zu dir sagen, so du von ihm nichts anderes lieben möchtest als nur seinen Unrat und stinkenden Kot?

[10.39] Möchte er nicht zu dir sagen: ‚Lieber Bruder, in welch großen Wahnsinn bist du geraten, dass dir von deinem Bruder nichts so sehr heilig ist und wohlgefällig, denn nur sein Unrat?‘

[10.40] Siehe alsonach, du törichter Mensch: Was dir dein Bruder sagt, das sagen wir dir mit noch bei Weitem größerem Recht! Denn siehe, wie viele herrliche Pflanzen wachsen auf unseren Höhen und Triften und nähren die nützlichsten Tiere des Landmannes! Wie viele tausend und tausende der schönsten Bäume wachsen auf uns und geben dir Holz in großer Menge, damit du dasselbe gebrauchen kannst zu zahllosen nützlichen Dingen! Zähle einmal die kristallreinen Quellen, welche wir auf vielen tausend Punkten ausliefern und segnen damit die Ebenen und Täler! Wie oft siehst du unsere Scheitel in Wolken eingehüllt und schauerliche Stürme um unsere Stirnen toben – siehe, solches nehmen wir auf uns, damit die von uns gesegneten Täler und Ebenen vor großen Verheerungen verschont bleiben. Jahraus und jahrein siehst du unsere Scheitel unter ewigem Schnee und Eis begraben; siehe, dadurch ziehen wir so vielfachen Frost an uns, damit die Täler und Ebenen sich der lebendigen Wärme erfreuen können.

[10.41] Sage uns nun, du törichter Mensch, was Übles haben wir dir denn getan, dass du alle diese Wohltaten von uns verkennst, dich dafür in unsere Eingeweide, gleich einem Spulwurm der Tiere, verkriechst und nachjagst dem, das für dich keinen Segen in sich birgt, uns aber dabei unbeachtet lässt, die wir dich doch nach der Anordnung deines und unseres allmächtigen Vaters und Schöpfers stets so reichlich mit lebendigem Segen versehen?

[10.42] Daher lasse ab von deiner Torheit und wühle in der Zukunft statt in unseren Eingeweiden lieber auf unseren Triften und Höhen herum, und sei versichert: eine Pflanze, ein Tropfen aus einer unserer Quellen und ein Blick von unseren Höhen, gesendet hin in den fernen Wirkungskreis deines allmächtigen Vaters und unseres Schöpfers, werden dir einen unaussprechlich größeren Nutzen bringen, als so du alle unsere Eingeweide ausgeräumt hättest.“

[10.43] Seht, dieser guten Predigt zufolge ist es auch schon zu öfteren Malen geschehen, dass aus sehr habsüchtigen Menschen, wenn sie nur einige Male den Bergen einen Besuch abgestattet haben, sogleich ganz freigebige und gastfreundliche Menschen geworden sind.

[10.44] Solches also predigen und lehren wieder die Berge. Was sie aber noch alles lehren und predigen, das wollen wir in der Fortsetzung vernehmen; und somit lassen wir es für heute wieder gut sein.

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